Steinerne Chronik sagt nicht alles -
Bilderfries am Roten Rathaus schönt Stadt- und Landesgeschichte



Der Markgraf verleiht Berlin das Stadtrecht. Die in dem Relief der Steinernen Chronik dargestellte Urkunde lässt sich nicht nachweisen. (Foto: Caspar)

Um das Rote Rathaus in der Mitte Berlins zieht sich ein Bilderfries, auf dem Episoden und Stationen der Stadtgeschichte dargestellt sind. Die Terrakottaplatten sind wie ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch gestaltet, doch kann man nicht alles für bare Münze nehmen, denn die „Steinerne Chronik“ ist ein Spiegelbild ihrer Entstehungszeit nach 1871. Offiziell heißt der Sitz früher des Berliner Magistrats und heute des Senats Berliner Rathaus, doch kann kaum jemand etwas mit diesem Namen anfangen. Die volkstümliche Bezeichnung „Rotes Rathaus“ für das riesige Verwaltungsgebäude mit dem hohen Uhrenturm bezieht sich nicht auf die Politik, die dort zurzeit von der rot-roten Koalition aus SPD und PDS gemacht wird, sondern auf die dunkelrote Farbe des für den Bau verwendeten und im 19. Jahrhundert sehr beliebten unverputzten Backsteins. Von 1866 bis 1871 war das Rathaus nach Plänen des Architekten Hermann Friedrich Waesemann anstelle eines Konglomerats älterer Bauten der Berliner Verwaltung errichtet worden. Die weitläufige Vierflügelanlage mit drei Höfen ist im Stil der italienischen Frührenaissance gestaltet. Der 97 Meter hohe Turm über der Front an der Rathausstraße hebt die Bedeutung des Hauses auch gegenüber dem Schloss hervor, das bis zum Abbruch im Jahre 1950 die Silhouette der Stadt dominierte. Schon bald nach seiner Fertigstellung erwies sich das Rote Rathaus als zu klein, weshalb um 1900 in der Nähe das Stadthaus ebenfalls mit einem mächtigen, Turm errichtet wurde.

Frauen nur als Staffage
Dass Skulpturen und Inschriften an öffentlichen Gebäuden auf Bauherren und historische Ereignisse hinweisen, ist nichts Ungewöhnliches. In Berlin findet man auf Schritt und Tritt solche Hinweise, mit denen die Bauwerke gleichsam geadelt wurden. Auch der aus 36 Tafeln bestehende Bilderfries rund um das Rote Rathaus wurde 1876 bis 1879 in spätklassizistischen Formen als eine Art steinerne Chronik angebracht. Dargestellt sind Episoden von der Frühzeit der Stadt bis zur Reichsgründung im Jahre 1871. Auf den von den Bildhauern Ludwig Brodwolf, Alexander Calandrelli, Otto Geyer und Rudolf Schweinitz gestalteten Terrakottaplatten in den Maßen von sechs mal einem Meter erscheinen Bürger, Handwerker, Ritter, Fürsten, Soldaten, Gelehrte, Künstler und viele andere Personen. In der Regel sind es Männer, die hier posieren; Frauen spielen als Staffage eine Nebenrolle, und das entspricht genau dem Frauenbild der Kaiserzeit.

Die Botschaft der kunstreich gestalteten Bildergeschichte lautet, dass die Stadt von weitblickenden, menschenfreundlichen Monarchen im friedlichen Verein mit fleißigen und wagemutigen Bürgern gegründet und fortentwickelt wurde. Das entsprach nicht ganz den Tatsachen, denn natürlich gab es Konflikte zwischen den Bewohnern der Doppelstadt Berlin-Cölln und ihren machtlüsternen Landesherren. Doch diese Bilder sind ausgeklammert oder nur in verschlüsselten Szenen dargestellt, etwa dort, wo aufsässige Bewohner oder Rechtsbrecher vors Gericht kommen. Vergeblich sucht man Bilder vom „Berliner Unwillen“, dem Aufruhr Mitte des 15. Jahrhunderts gegen die Hohenzollern, und auch von den Barrikadenkämpfen im Revolutionsjahr 1848.

Auf Harmonie orientiert
Themen des genrehaft angelegten, ganz auf Harmonie orientierten Bilderfrieses sind unter anderem die Erteilung des Stadtrechts für Berlin und Cölln durch die brandenburgischen Markgrafen, Szenen aus dem Alltag der Handwerker und vom Treiben auf den Märkten. Sodann blickt man auf das Schulwesen und erlebt die Aufnahme der wegen ihres Glaubens aus Frankreich vertriebenen Hugenotten im ausgehenden 17. Jahrhundert. Als große Leistung der Hohenzollern und wichtig für die Entwicklung der Stadt werden die Gründung der Akademie der Wissenschaften und die Förderung der Künste und der Industrie in der Barockzeit gefeiert. Natürlich wird auch die Volkserhebung gegen das napoleonische Frankreich ins Bild gerückt. Sie war eine Bewegung von unten nach oben, die der damalige König Friedrich III. mit großem Unbehagen betrachtete und an deren Spitze er sich nur unwillig und der Not gehorchend stellte. Die Steinerne Chronik aber macht glauben, als sei der Monarch Initiator und Motor dieser auch auf Reformen abzielenden Entwicklung gewesen.

Selbstverständlich spielt das 19. Jahrhundert, das wir auch als Periode der industriellen Revolution und der gesellschaftlichen Umbrüche kennen, in der Steinernen Chronik eine große Rolle. Sie vermittelt den Eindruck von Harmonie zwischen den Königen und dem Volk und lassen nicht erkennen, dass es unter der glänzenden Oberfläche in der Haupt- und Residenzstadt Berlin brodelte und es hier einen schreienden Gegensatz zwischen Oben und Unten, Reich und Arm gab. Auf dem Schlussstein ist zu sehen, wie ein Zeitungsjunge die Nachricht von der Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. am 18. Januar 1871 in Versailles zum deutschen Kaiser in Berlin verbreitet. Glücklich stoßen, am Tisch sitzend, ein Preuße, ein Mann aus Bayern und ein Sachse auf die deutsche Einheit an, während patriotische Berliner den Kaiseradler bekränzen. Auch bei dieser friedlich anmutenden Darstellung wird übersehen, dass die Vereinigung des Landes unter den Fittichen des preußischen Adlers Ergebnis eines Krieges gegen Frankreich war und nicht ohne Konflikte und Rückschläge verlief.

Zerstört und ergänzt
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Rote Rathaus zum Teil stark beschädigt. Neun Platten der „Steinernen Chronik“ waren zerstört und wurden beim Wiederaufbau in den fünfziger Jahren von den Bildhauern Richard Schnauder und Hansfritz Werner nach alten Vorlagen neu geschaffen. Diese Zutaten können bei genauem Hinsehen durch das leicht veränderte Material und auch die modernere Art der Gestaltung von den ursprünglichen Platten unterschieden werden. Dass man die nicht ins marxistisch-leninistische Geschichtsbild passende Steinerne Chronik nicht einfach abgeschlagen, sondern restauriert und gereinigt hat, ist bemerkenswert. Aber vielleicht hat man sich damals gesagt, dass die kleinen Figuren nicht besonders gut zu sehen sind und viele Leute mit den Darstellungen auch kaum etwas anfangen können.

Wenn man sich ein wenig Zeit nimmt, erkennt man zahlreiche historische Persönlichkeiten. Neben Angehörigen des hohenzollernschen Herrscherhauses ist auch das geistige und politische Berlin auf den Reliefs reichlich vertreten. Gezeigt wird, wie sich der erste Preußenkönig Friedrich I. das Modell des Reiterdenkmals seines Vaters, des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm, anschaut, oder man sieht, wie Friedrich Wilhelm III. und seine Gemahlin Luise, auf dem Thron sitzend, die Städteordnung von 1808 entgegen nehmen. Auf weiteren Platten erkennt man den Freiherrn vom Stein und den Staatskanzler von Hardenberg, den Turnvater Jahn und den Prediger der deutschen Einheit Ernst Moritz Arndt. Dazu kommen Künstler wie Schadow und Rauch oder die Brüder Grimm, die in Berlin das „Deutsche Wörterbuch“ verfassten und sich einen Namen als Sammler von Märchen und Sagen machten. Dass auf der Steinernen Chronik brisante, aber für die Lokal- und Nationalgeschichte wichtige Ereignisse wie die Revolution von 1848/9 ausgeklammert sind, passt in die einseitige Geschichtspropaganda der Kaiserzeit, in der man sich ungern daran erinnerte, dass in jenen turbulenten Jahren Kronen und Throne wankten.

Helmut Caspar

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