„Verwegener Menschenschlag“ -
Warum Goethe im Jahre 1778 von Berlin und Potsdam
wenig erbaut war



Goethe im Jahre 1776, Kupferstich von D. Chodowiecki nach einer Vorlage von G. M. Kraus. (Foto: Staatsbibliothek zu Berlin)

Als Johann Wolfgang von Goethe vom 15. bis 20. Mai 1778 in Begleitung seines Landesherrn und Arbeitgebers, des Weimarer Großherzogs Karl August, Berlin und Potsdam besuchte, war der preußische König Friedrich II., der Große, wieder einmal im Krieg, genauer im Bayerischen Erbfolgekrieg. Die inkognito reisende Reisegesellschaft sah sich gründlich um, und hätte nicht Goethe, damals schon ein bekannter Buchautor, Tagebuch geführt und seiner Geliebten Charlotte von Stein und anderen ihm nahe stehenden Personen während und nach der Visite einige Eindrücke schriftlich mitgeteilt, wäre der Abstecher an die Spree und Havel weitgehend vergessen. Von den Berlinern hatte Goethe, so zeigt sich, keine sonderlich große Meinung. Er hielt sie für einen „verwegenen Menschenschlag“ und ziemlich ungehobelt. Im Alter revidierte der Künstler seine Meinung ein wenig, und mit einem Berliner, dem Maurermeister und Direktor der Singakademie Carl Friedrich Zelter, pflegte er sogar freundschaftliche Beziehungen.

Bedauerlich für die vornehme Reisegesellschaft war, dass sie den König nicht zu Gesicht bekam. Dass allerdings eine solche Begegnung für den aufstrebenden Dichter erfreulich gewesen wäre, ist kaum anzunehmen. Denn der ganz auf das Französische fixierte Hohenzoller konnte mit deutscher Literatur nicht viel anfangen und hielt sie auch für unbedeutend. Was die Deutschen zu Papier bringen, sei zu vernachlässigen, war seine unumstößliche Meinung. Auch ein Goethe, berühmt durch seinen „Werther“ und „Götz von Berlichingen“, hätte ihn gewiss nicht von diesem Vorurteil abgebracht. Selber gebrauchte der Monarch bekanntlich nur gebrochen seine Muttersprache, während er auf französisch höchst amüsant zu schreiben und zu parlieren verstand.

Ungeachtet der verpassten Gelegenheit, den König von Preußen aus nächster Nähe zu sehen, war die kurze Besuchswoche für den Herzog und den Dichter recht ertragreich. Man besuchte das Zeughaus, die Porzellanmanufaktur, das Opernhaus und andere Sehenswürdigkeiten, traf sich mit Künstlern und Gelehrten. Goethe erhielt diverse Bekundungen für die Verehrung, die man ihm auch in Preußen entgegen brachte. Die Dichterin Anna Luise Karsch, genannt Karschin, schrieb ihm holprige Verse dieser Art: „Du solst, Du must mir nicht entweichen / mitt Deinem Herzog gutt und fein / bis wir zusamen brodt gebrochen / und Du bey wenig Mittelwein / mit Einem wortt mir versprochen / mein auserlesner freund zu sein“. Die Begegnung fand tatsächlich statt, und Goethe steckte sich die Rosen, die ihm die Karschin überreichte, an den Hut, scheint sich aber nicht weiter zu den hymnischen Ergüssen seiner Verehrerin geäußert zu haben.

Im Mittelpunkt der Reise stand in Ermangelung des Königs eine Visite beim Prinzen Heinrich, seinem als Feldherrn und Diplomaten geachteten Bruder. Über die Begegnung im Berliner Stadtpalais des Prinzen, der heutigen Humboldt-Universität Unter den Linden, äußerte sich Goethe zurückhaltend, wissend, dass Heinrich gegenüber seinem Bruder und König eine, vorsichtig gesagt, distanzierte Meinung hatte.

Dem „alten Fritzen“ sei er trotz dessen Abwesenheit dennoch recht nah gekommen, schrieb Goethe rückblickend. „Da hab ich sein Wesen gesehn, sein Gold, Silber, Marmor, Affen, Papageien und zerrissene Vorhänge, und hab über den großen Menschen seine eigenen Lumpenhunde räsonnieren hören“. Damit waren Prinz Heinrich und seine Umgebung gemeint, die ihre abfälligen Tuscheleien und Bemerkungen über den berühmten und europaweit geachteten König von Preußen auch in Gegenwart von Fremden nicht unterdrücken wollten.

Als die Reisegruppe Potsdam besuchte, um die königlichen Schlösser zu besichtigen, muss es zu einem unangenehmen Auftritt mit einem Kastellan gekommen sein. Dem Aufseher von Sanssouci bescheinigte Goethe flegelhaftes Verhalten. Dies wohl deshalb, weil sich der Beamte weigerte, den vornehmen Besuchern das Allerheiligste, nämlich die königlichen Wohnräume, zu zeigen. Das Verhalten des Kastellans entsprach der Vorschrift, denn bei Besichtigungen für ein paar Taler Entgelt blieben die Privaträume des Monarchen ausgespart. Das ist heute auch nicht anders.

Die zwiespältigen Eindrücke, die Goethe in Berlin und Potsdam gewann, hielten den in den Olymp der Dichtkunst aufgerückten Künstler später neben anderen Gründen davon ab, trotz manch freundlicher Einladungen die Stadt an der Spree erneut zu besuchen. Goethes Werke wurden hier dennoch viel und mit großem Erfolg aufgeführt und gelesen. Wenn Goethe an die Berliner dachte, hatte er recht zwiespältige Gefühle. „Es lebt aber dort ein so verwegener Menschenschlag beisammen, dass man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern dass man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muss, um sich über Wasser zu halten. Das Völkchen besitzt viel Selbstvertrauen, ist mit Witz und Ironie gesegnet und nicht sparsam mit diesen Gaben“. Mit „Menschen“, also den Berlinern, habe er sonst gar nichts zu verkehren gehabt, schrieb der Dichter im Rückblick. Da er sich auf einer diplomatischen Mission befand und als „Promi“, wie wir heute sagen würden, rund um die Uhr beobachtet wurde, habe er sich in Zurückhaltung üben müssen „...und hab in preußischen Staaten kein laut Wort hervorgebracht, das sie nicht könnten drucken lassen. Dafür ich gelegentlich als stolz etc. ausgeschrieen bin“. Erst 1880 wurde für den Weimarer Klassiker im Berliner Tiergarten ein Denkmal errichtet. Es steht in der Nähe des Brandenburger Tors mit Blick auf das neue Denkmal für die ermordeten Juden Europas, ist allerdings nicht das Original aus Marmor, das im Wasserwerk am Halleschen Ufer Asyl fand, sondern ein Abguss aus Beton.

Helmut Caspar

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