„Mit Andacht und Verlangen“
Vor 150 Jahren veröffentlichten die Brüder Grimm die ersten Folgen ihres Deutschen Wörterbuchs

Ein Denkmal deutscher Sprachgeschichte feiert Geburtstag: 150 Jahre alt wird das Deutsche Wörterbuch der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm. Im Frühsommer 1854 erschien in Leipzig der erste Band, dem im Laufe eines Jahrhunderts 31 weitere folgen sollten. Seit 1838 hatten die Philologen, die vor allem durch ihre Kinder- und Hausmärchen weithin bekannt sind, an dem Projekt gearbeitet. In Berlin, wohin sie wegen politischer Querelen mit dem König von Hannover vertrieben wurden, fanden sie ausreichende Lebens- und Arbeitsbedingungen, konnten sich ganz dem Sammeln von Zeugnissen der deutschen Sprachgeschichte vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart widmen. Sprachlexika hatte es schon lange gegeben, doch das Grimmsche Wörterbuch übertraf alle Erwartungen.

Von ihrem Werk, in dem sie die Kleinschreibung konsequent anwandten, hatten die Brüder Grimm die romantische Vorstellung, es könne „mit andacht und verlangen“ als eine Art Hausbuch gelesen werden. „warum sollte nicht der vater ein paar wörter ausheben und sie abends mit dem knaben durchgehend zugleich (auf) ihre sprachgabe prüfen und die eigene auffrischen? die mutter würde gern zuhören.“ Der in der Vorrede zum ersten Band von 1854 beschriebene Fall dürfte selten eingetreten sein. Vielmehr haben Generationen von Sprachwissenschaftlern, Autoren und Übersetzern das Wörterbuch für eigenen Arbeit genutzt und es dann und wann mit eigenen Wortschöpfungen auch bereichert.

Das Autorenpaar schaffte nur die ersten sechs Buchstaben des Alphabets. Wilhelm Grimm starb 1859, Jacob Grimm legte 1863 beim Artikel „Frucht“ für immer die Feder aus der Hand. Erst 1960 wurde das Monumentalwerk abgeschlossen. Die Arbeit war damit allerdings nicht beendet, denn das Deutsche Wörterbuch mit rund 32500 Seiten rief geradezu nach einer Neubearbeitung. Unzählige Wörter und Wendungen waren seit der Erstveröffentlichung hinzugekommen, manche ursprünglichen Bewertungen erwiesen sich als subjektiv oder schlicht falsch. Ganze Bereiche, etwa Eindeutschungen oder die Umgangssprache, waren nicht oder nur unzureichend berücksichtigt worden.

Die Neubearbeitung des Grimmschen Wörterbuchs erfolgte ab etwa 1963 als eines der wenigen gesamtdeutschen Forschungs- und Publikationsvorhaben durch Arbeitsstellen an den Akademien der Wissenschaften in Berlin und Göttingen. Der ursprüngliche Plan, die Neubearbeitung bis zum Buchstaben Z durchzuhalten, ließ sich aus Kostengründen nicht verwirklichen. Daher übernahm die Berliner Arbeitsstelle nach 1990 die Buchstaben A bis C, während sich die Göttinger Sprachwissenschaftler mit den Buchstaben D bis F befassen. Im Jahr 2012 soll das Werk mit dann neun Bänden abgeschlossen werden.

In ihrem Nachschlagewerk beschrieben die Brüder Grimm anhand ausgewählter Belege aus Schriften von Luther bis Goethe und aus älteren Quellen Herkunft, Bedeutung, Gebrauch, Verwandtschaft und Verbreitung des deutschen Wortschatzes. Heute werden neueste Speicher- und Bearbeitungstechniken genutzt, um die in riesigen Mengen anfallenden Belege zu bewältigen. Für die Buchstaben A bis C wurden 23850 Stichwörter im „Ur-Grimm“ gezählt. Das Archiv der Neubearbeitung dieser „Wortstrecke“ enthält drei Millionen Belege als Grundlage für etwa 120000 Stichwörter.

Die Arbeitsstelle im Berliner Akademiegebäude an der Jägerstraße besitzt ein riesiges Archiv von Millionen Exzerpten aus Urkunden, Briefen, Werken der Belletristik und der Fachliteratur, aber auch aus Zeitungen und Zeitschriften, ja selbst aus Politikerreden und Gebrauchsanweisungen. Grundlage der Recherche bildet eine umfangreiche Bibliothek mit zum Teil sehr alten Büchern und Manuskripten. Die in zahllosen Zettelkästen archivierten Fundstücke werden systematisch ausgewertet und zu Artikeln für das Wörterbuch zusammengestellt. „Da natürlich nicht alles Eingang in das Wörterbuch finden kann, liegt die Kunst der Bearbeiter darin, die richtige Auswahl zu treffen“, sagt Peter Schmitt, Leiter der Berliner Arbeitsstelle Deutsches Wörterbuch. Dazu würden zwar alle modernen Speicher- und Bearbeitungstechniken genutzt, doch die eigentliche schöpferische Arbeit liege wie zu Grimms Zeiten bei den Sprachwissenschaftlern. Sie müssen bestimmen, welches Wort mit welchen Belegen in das Lexikon kommt und was fortgelassen wird. Beim Wort „Ast“ beispielsweise hat man über einhundert Ableitungen gefunden, doch nur sieben kommen in die Neubearbeitung, nämlich Ast, asten, Astgabel, Astloch, astrein, ästig und Astwerk. Da eine ähnliche Auswahl auch bei den anderen Wörtern vorgenommen wird, kommen selten gebrauchte Wendungen, für die kaum literarische Belege zu finden sind, in dem Grimmschen Wörterbuch nicht vor.

Wie das Wörterbuch entstanden ist und wie es an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften fortgeführt wird, schildert eine mit vielen unbekannten Dokumenten bestückte Ausstellung anlässlich des Erscheinens des ersten Bandes vor 150 Jahren. Die Dokumentation findet vom 5. Juli bis 28. August im Hauptgebäude der Humboldt-Universität Unter den Linden statt.

Helmut Caspar

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