Litfaß’ dickbäuchige Kinder werden
150 Jahre alt -
Runde Anschlagsäulen wurden in Berlin schnell populär, und ein Nachbau ziert den Gendarmenmarkt



Nach historischem Vorbild konstruiert, wirbt eine Litfaßsäule auf dem Gendarmenmarkt. (Foto: Caspar)

Wildes Bekleben von Wänden und Zäunen ist keine Erfindung unserer Tage. Manchmal sind die bunten Papierschichten zentimeterdick und blättern unter ihrem eigenen Gewicht ab. Niemand findet sich, sie wieder zu entfernen, schon gar nicht diejenigen, die ihre Ankündigungen und Suchmeldungen mit dickem Kleister angebracht haben. Schon vor 150 Jahren gab es in der preußischen Hauptstadt mit unkontrolliert angeschlagenen Zetteln und Plakaten viel Aufregung. Stadtverwaltung und Hausbesitzer ärgerten sich über Verschandelung ihrer Gebäude. Hilfe kam vor 150 Jahren von dem Berliner Druckereibesitzer Ernst Theodor Amandus Litfaß (1816-1874) und den nach ihm benannten Anschlagsäulen.

Der auf zahlreichen Auslandsreisen gebildete Drucker und Verleger ließ am 1. Juli 1855 nach Pariser Vorbild die ersten von 150 runden Plakat- und Zettelsäulen aufstellen. Dazu hatte er eine amtliche Genehmigung erhalten. „Dem Buchdrucker Ernst Litfaß, allhier ansässig in der Adlerstraße 6, wird auf dero persönliches Ersuchen hin gestattet, auf fiskalischem Straßenterrain Anschlagsäulen zwecks unentgeltlicher Aufnahme der Plakate öffentlicher Behörden und gewerbsmäßiger Veröffentlichungen von Privatanzeigen zu errichten. Alles andere Plakatieren von Zetteln ist künftig verboten“, gab Polizeidirektor Karl Ludwig von Hinkeldey am 5. Dezember 1854 bekannt und erteilte Litfaß das Monopol für diese Art öffentlicher Bekanntmachung.

Die Litfaßsäule war geboren, ihr Siegeszug war nicht aufzuhalten. Auf den über drei Meter hohen Säulen aus Gusseisen verbreiteten der Berliner Magistrat und die Polizei amtliche Verlautbarungen, die bei Litfaß, wie sollte es anders sein, gedruckt wurden. Außerdem warben zahlreiche Unternehmen für ihre Erzeugnisse und Dienstleistungen. Zum Repertoire gehörten ferner Theaternachrichten, Produktreklame und private Suchmeldungen aller Art.

Ernst Litfaß nutzte einige Säulen als öffentliche Toiletten und half damit ein zusätzliches Bedürfnis zu befriedigen. Andere Zylinder besaßen inwendig eine Wasserleitung und dienten als Brunnen. Da „Wasser aus der Wand“ Mitte des 19. Jahrhunderts noch weitgehend unbekannt war, erfreuten sich die Litfaßbrunnen als Treffpunkt der Bevölkerung großer Beliebtheit. Hier konnten sie private Nachrichten austauschen und Neuigkeiten aller Art schnell weitergeben.

Litfaß’ ab 1855 auf Plätzen und an Straßenkreuzungen aufgestellte Novität wurde schnell populär und war aus dem Stadtbild bald nicht mehr wegzudenken. Bereits zehn Jahre nach der Premiere wurden in Berlin fünfzig weitere Anschlagsäulen aufgestellt. Schon bald sang man die „Ernst-Litfaß-Annoncier-Polka“ und andere Gassenhauer auf „Litfaß’ dickbäuchige Kinder“ oder die „eisernen Dicken“, wie man damals sagte. Auch andere Städte waren bei der Übernahme der Anschlagsäulen nicht faul und machten damit den Namen des innovativen Druckers weithin bekannt, was dessen Geschäften natürlich nützlich war.

Der gelernte Buchhändler war ein vielseitig interessierter und auch musisch veranlagter Mann. Als Schauspieler und Gründer des Berliner Theater „Lätitia“, des späteren „Vorstädtischen Theaters“, hatte der Musensohn jedoch bei weitem nicht so viel Erfolg wie mit seiner Arbeit als Drucker sowie als Verleger von Zeitungen und Almanachen. Dass sich Litfaß, den man bald Säulenheiliger nannte, mit den preußischen Behörden gut verstand, ist verwunderlich, denn in der 1848er Revolution hatte er sich bei diesen als Liberaler und Herausgeber von Flugschriften und des regimekritischen Blattes „Berliner Krakeeler“ unbeliebt gemacht. Immer auf der Suche nach Neuem, war er es, der erstmals in Deutschland großformatige Plakate herstellte. Ungewöhnlich war ferner, dass Litfaß Grafiker und Schriftkünstler für die Plakatwerbung beschäftigte. 1863 zum Hofdrucker ernannt, betätigte er sich als Mäzen und Gastgeber von Wohltätigkeitsveranstaltungen, deren Ertrag er für soziale Zwecke stiftete. Aufgrund eines königlichen Privilegs verbreitete er in den preußisch-deutschen Kriegen von 1866 gegen Österreich und 1870/71 gegen Frankreich offizielle Kriegsnachrichten und Siegesmeldungen.

In den vergangenen Jahrzehnten verschwanden die Litfaßsäulen aus dem Stadtbild. Schautafeln und andere Webeträger übernahmen ihre Aufgaben. Neuigkeiten aller Art gibt’s in den Zeitungen, Fernsehen, Radio und im Internet. Um die dicken Säulen nicht ganz aus dem Gedächtnis verschwinden zu lassen, hat die Wall AG vor einiger Zeit eine nach alten Vorlagen neu gebaute Litfaßsäule auf dem Gendarmenmarkt, nicht weit vom Französischen Dom entfernt, aufstellen lassen. Aufgeklebte Plakate werben hier stilgerecht für Veranstaltungen in Berlins Mitte und erinnern damit auch an einen innovativen Drucker, dessen Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ebenfalls im Auftrag des mit der Aufstellung von Toilettenhäuschen, Haltestellen, Uhren und anderen Stadtmöbeln befasstem Unternehmens restauriert wurde.

Helmut Caspar

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