Massengrab im Nikolaiviertel -
Berliner Archäologen wurden an einer Mauer der Nikolaikirche fündig



Archäologietechniker Ralf Scherrer zeichnet eines der vielen an der Außenmauer der Nikolaikirche gefundenen Skelette in einen Lageplan ein. (Foto: Caspar)

Das Gemäuer im Chorbereich der Nikolaikirche im Herzen des alten Berlin muss saniert werden. Doch bevor sich die Maurer ans Werk machen können, rücken die Archäologen vom Landesdenkmalamt an und gehen in den Boden. Vor der Chormauer haben sie Überreste von zahlreichen Toten in einer Tiefe bis zu drei Metern gefunden. Die Grabstätten gehören zu einem Friedhof, der erst im frühen 18. Jahrhundert aufgegeben wurde. Die dicht übereinander geschichteten Gräber schmiegen sich eng an die gebogene Chorwand an und lassen einen Blick in die frühe Geschichte der Stadt zu. „Nach unseren Berechnungen könnten allein auf diesem Fleck etwa 400 Bestattungen liegen. Das deutet auf drangvolle Enge hin und wirft ein interessantes Licht auf wenig komfortable Lebensverhältnisse im alten Berlin“ sagt der Archäologe Uwe Michas, der auch Ausgrabungen in der Marienkirche und in der Klosterkirche betreut. Da und dort deuten Verfärbungen im Boden auf Bestattungen in Särgen. Sie sind schon längst vergangen, lediglich eiserne Griffe erinnern noch an sie.

Geradezu elektrisiert ist Michas angesichts eines vor kurzem gefundenen Schädels eines etwa 60jährigen Mannes. Er muss in mittelalterlicher Zeit massive Verletzung vielleicht durch Schwerthiebe erhalten haben. Dass er sie überlebte, deuten verheilte Schlagspuren an. Viel Freude an seiner Genesung dürfte dieser offenbar sehr kräftige Mann nicht gehabt haben, denn nach einer Erholungsphase wurde er durch einen weiteren Hieb tödlich niedergestreckt. Da der Mann noch fast alle seine Zähne besaß, könnte er zum gehobenen Bürgertum gehört haben, das im Mittelalter blutige Fehden mit raubenden und mordenden Rittern austrug.

Zu den herausragenden Resultaten der Grabung zählt auch ein unscheinbares Stück grauer Keramik, das aus einer tiefen Erdschicht ans Tageslicht kam. Es handelt sich um den Ausguss eines flaschenförmigen Gefäßes, das nach ersten Untersuchungen aus dem frühen 13. Jahrhundert oder sogar noch aus slawischer Zeit stammen könnte. „Als offizielles Gründungsdatum der Doppelstadt Berlin-Cölln gilt das Jahr 1237, doch wie dieser Fund beweist, lebten hier im heutigen Nikolaiviertel offenbar Menschen schon längere Zeit vor dieser ersten urkundlichen Erwähnung“, wertet Michas dieses interessante Indiz für die sehr frühe Besiedlung der Stadt in vorgeschichtlicher Zeit.

Die Anthropologin Jeanette Fester leitet von den bisher ausgegrabenen sterblichen Überresten ab, dass im Umkreis der Nikolaikirche auffällig viele Frauen und Kinder beerdigt wurden. Die Fundumstände deuten darauf hin, dass man vielleicht aus Sparsamkeits- oder Zeitgründen gleich mehrere Kinderleichen zu den Erwachsenen in die Särge gelegt hat. Anzunehmen sei, so Fester, dass man sich in Pestzeiten schnell der Verstorbenen entledigte. Die Gefahren, die von solchen Bestattungen im unmittelbaren Wohnbereich ausgingen, waren noch nicht bekannt. Die Archäologen versprechen sich neue Erkenntnisse über die Altersstruktur der Urberliner, ihre vor allem durch mangelhafte Ernährung bedingten Krankheiten, das zahlenmäßige Verhältnis von Männern und Frauen oder auch über die hohe Kindersterblichkeit und ihre Ursachen. Der sechzigjährige Mann mit den Schädelverletzungen wenigstens muss als Methusalem gegolten haben. Sein geradezu biblisches Alter erreichte zu seiner Zeit kaum jemand.

Helmut Caspar

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