Pinselheinrichs Werk wurde zum Programm -
Vor 75 Jahren starb Heinrich Zille,
der Zeichner des Berliner „Milljös“



„Drücken musste“ titelte Heinrich Zille diese Kinderszene (1910). Repro: Caspar

Als vor 75 Jahren, am 9. August 1929, der Zeichner des Berliner „Milljös“ Heinrich Zille einundsiebzigjährig starb, war die Trauer groß. Seinem Sarg folgten unzählige Menschen. Nachrufe in den Zeitungen sprachen von einem großen Verlust. Die Akademie der Künste widmete ihrem toten Mitglied ehrende Worte. Viele Trauergäste kannten den 1858 in Radeburg bei Dresden geborenen und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen Kunstprofessor persönlich, lobten seine Volksnähe und seine wache Beobachtungsgabe. Manch einer mag gewusst haben, dass sich Zille nach seiner Übersiedlung 1867 nach Berlin autodidaktisch das Zeichnen beigebracht und mühsam seinen Lebensunterhalt als Retuscheur bei der Photographischen Gesellschaft verdient hatte, bevor er 1907 den Schritt in das freischaffende Künstlertum wagte.

Zwar rümpfte der offizielle Kunstbetrieb der Kaiserzeit die Nase über Zilles „Rinnsteinkunst“, doch nahmen er und andere Künstler den Bannstrahl Wilhelms II. durchaus als Ehrentitel und Ansporn an. Dass man den Zeichner schon bald „Pinselheinrich“ nannte, spricht für seine große Popularität.

Mit Karikaturen und Milieuschilderungen trat Zille, der auch ein hervorragender Fotograf war, erst ab etwa 1900 an die Öffentlichkeit. „Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter - und es sind Meisterwerke“, fasste Käthe Kollwitz ihr Urteil über die einzigartige Könnerschaft ihres Kollegen zusammen. Als Zeitungen und Zeitschriften in wachsender Zahl seine Szenen veröffentlichten, sicherte dies ihm ein Leben frei von materiellen Sorgen. Viele seiner Bilder fasste Zille darüber hinaus in Mappenwerken zusammen, die er unter Titeln wie „Hurengespräche“, „Berliner Luft“ oder „Komm, Karlieneken, komm“ veröffentlichte.

Zilles Zeichnungen zeigen dunkle Hinterhöfe und ärmliche Wohnstuben, überfüllte Strandbäder und Weihnachtsmärkte, Kneipen und auch den Berliner Straßenstrich. Viele seiner Typen fand der Künstler im alten Berlin, fern von den gleißenden Lichtern der Großstadt – ungewollt schwangere Frauen, die vor Verzweiflung ins Wasser gehen wollen; Männer, die in Destillen ihren letzten Groschen versaufen; dann die „jnädige Frau“, die ihr Dienstmädchen herunterputzt, und der elegante Charmeur, der sich in eindeutiger Absicht an ein „Meechen“ heran macht. Und dann diese „Zille-Kinder“ - kesse Gören, die wenig Lust haben, auf die kleinen Geschwister aufzupassen, sondern sich lieber von den Älteren „aufklären“ lassen, oder vermummte Gestalten, die bei beißender Kälte Selbstgebasteltes verkaufen oder sich an hell erleuchteten Schaufenstern die Nase platt drücken und nichts von all diesen Herrlichkeiten abbekommen. Aufs Korn nimmt Zille sowohl humorlose Polizisten, die ihren Frust an anderen auslassen, oder jenen dicken Fabrikanten, der einen ausgemergelten Arbeiter mit einem billigen Geschenk für lange treue Dienste abspeist und ihm noch vorhält, was er all die Jahre an Lohn bekommen hat. Im Rückblick kommt einem Zilles Zeitkritik eher verhalten vor. Zur Revolution und zum Klassenkampf aufzurufen, war seine Sache nicht.

Heinrich Zille war ein Mann des Volkes. Die Männer, Frauen und Kinder der unteren Schichten lieferten ihm Motive für deftige Komik, mal für ungeschminkte Erotik. Überall schleichen sich elende Hungergestalten durch die Bilder. Sie sind Ausdruck elender Zeitverhältnisse, von denen der Künstler weiß, dass er gegen sie mit seinem Stift nicht angehen, vielleicht aber ein wenig erträglicher machen kann. Nicht von ungefähr sieht Zille dort, wo kein Sonnenstrahl hinein fällt, noch eine dürftige Blume wachsen, oder er bemerkt, wie sich die Bewohner eines Hinterhofs bei Zauberkunststücken und Klamauk amüsieren. In Gedenkbuch aus dem Todesjahr 1929 liest sich der Rückblick auf das Lebenswerk des Künstlers so: „Zille ist immer ein ganzer Mensch gewesen. Als seine ersten Zeichnungen aus dem Volke in den humoristischen Zeitschriften auftauchten, um 1900 herum, empfanden alle Leser, dass hier eine durchaus besondere und bedeutende Persönlichkeit sich äußerte. Eine eigenartige, persönliche Auffassung sprach aus dem kräftigen Strich der Darstellung, die eine ebenso geschulte wie eigenwillige Hand erkennen ließ. Das Dargestellte aber selbst: Volk, elendes, gedrücktes Volk, das sich trotz allem den Humor nicht nehmen ließ, das mit Lachen gegen den Druck und gegen seine kümmerliche Lebenshaltung aufbegehrte. Zille wurde zum Programm.“

Man mag es nicht glauben, aber erst 73 Jahre nach Zilles Tod wurde in Berlin ein eigenes Zille-Museum eröffnet. Die Ausstellung wurde im Sommer 2002 im Nikolaiviertel eröffnet und zeigt in wechselnder Auswahl Proben seines Schaffens. Die Zeichnungen, Aquarelle und Radierungen stammen im Wesentlichen aus dem Besitz des zur Stiftung Stadtmuseum Berlin gehörenden Märkischen Museums. In Bronze gegossen, steht der Künstler seit 1965 wenige Schritte vom Köllnischen Park unweit des Märkischen Museums. Der Bildhauer Heinrich Drake zeigt „Pinselheinrich“ stehend bei seiner Arbeit. Ein Berliner Junge schaut dem Meister über die Schulter. Zille, den Schlapphut auf dem Kopf, den unvermeidlichen Zigarrenstummel im Mund, schaut über den Brillenrand und ist gerade dabei, eine Straßenszene im Skizzenblock festzuhalten. Ausgebeult sind die Taschen seines Jacketts mit Mal- und Zeichenutensilien darin. Der junge Arbeiter, der ungebeten die Zeichnung beäugt, demonstriert die Tuchfühlung, die der Künstler für sein Werk so dringend brauchte. Der Standort des Zilledenkmals von 1965 - ein älteres von Paul Keutsch (1930) in der Bergstraße ist verschwunden – war gut gewählt. In Alt-Berlin fand der Zeichner seine Typen, die ihm Freunde waren. In Kneipen wie dem „Nussbaum“ oder auch im „Metzer Eck“ war Heinrich Zille ein gern gesehener Gast. Man nahm ihn liebevoll auf, ließ ihn nicht spüren, dass er als Mitglied der Akademie der Künste und Professor ja eigentlich etwas „Besseres“ ist. „Im Nussbaum links vom Molkenmarcht, / Da hab' ick manche Nacht verschnarcht, / Da malt der Vater Zille! / Die Jäste, die sind knille!“, sang die Kabarettistin und Chansonsängerin Claire Waldorff. Mit dem „Nussbaum“ war das Altberliner Wirtshaus auf der Fischerinsel gemeint, das DDR-Hochhäusern weichen musste. Es hat im Nikolaiviertel 1987 eine originalgetreue Zweitauflage erhalten, und auch hier wird, wie wenige Schritte weiter im neuen Zillemuseum, das Andenken an den Maler des Berliner „Milljös“ gepflegt.

Helmut Caspar

Mit "Zurück" zur Themenübersicht "Berlin und das Land Brandenburg"