Wanderungen über den Spreebogen -
Neues Buch begibt sich auf Spurensuche über geschichtsträchtiges Gelände im Herzen Berlins

Der Spreebogen war, man möchte es nicht glauben, bis zum Zweiten Weltkrieg ein dicht bebautes Siedlungsgelände im heutigen Bezirk Tiergarten. Wo sich heute am Ufer der Spree das Bundeskanzleramt, umgeben von viel Grün, ausdehnt und auch das Reichstagsgebäude täglich unzählige Besucher anlockt, lebte und arbeitete in königlichen und kaiserlichen Zeiten die bessere Berliner Gesellschaft. Hier standen wichtige Regierungs- und Parlamentsbauten; hier wurde Geschichte geschrieben, und die war, wie Dieter D. Genske und Ernst Hess-Lüttich in ihrem Buch „Wo steht das Kanzleramt? Der Spreebogen, eine raum-zeitliche Spurensuche“ schreiben, nicht immer erfreulich.

Das Buch lädt, in zwölf Kapitel gegliedert, zu einer Zeitreise ein und macht dabei mit Leuten bekannt, die hier gewohnt oder gewirkt haben, und stellt Ereignisse und Bauwerke vor, die kaum noch jemand kennt. So erfahren die Leser, dass das damals noch vor den Toren der preußischen Haupt- und Residenzstadt gelegene Areal im 18. Jahrhundert ein staubiger Exerzierplatz war, auf dem die Hohenzollern ihre Rekruten drillten. Um deren Entweichen zu verhindern, aber auch um Schmuggel vorzubeugen, wurde eine Akzisemauer gebaut, die vom damals noch barocken Brandenburger Tor über das Gelände des späteren Reichstagsgebäudes zur Spree und darüber hinaus führte.

Für den Bau des Reichstagsgebäudes war es im ausgehenden 19. Jahrhundert nötig, am Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik, stehende Bauwerke zu beseitigen. Vom Parlamentsgebäude mit der Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE hatte der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 ausgerufen: „Das Alte und Morsche, die Monarchie, ist zusammengebrochen. Es lebe das Neue! Es lebe die Deutsche Republik!“. Nach dem Reichstagsbrand 1933, den die Nazis zur Verfolgung der Opposition nutzten, hielt der neue starke Mann, NSDAP-Führer Adolf Hitler, seine Brandreden in der Kroll-Oper auf der anderen Seite des Platzes und ließ sich hier zur Beseitigung der in der Weimarer Republik errungenen demokratischen Rechte ermächtigen.

Eines der Kapitel dieser spannend zu lesenden Spurensuche befasst sich mit Versuchen in vor 90 Jahren, den gegen Homosexuelle gerichteten Diskriminierungsparagraphen 175 abzuschaffen. Wortführer der Bewegung war der Mediziner Dr. Magnus Hirschfeld, der 1919 das Institut für Sexualwissenschaften mit der Adresse In den Zelten 10 eröffnete. Nach der Errichtung der Nazidiktatur wurde das Institut von SA-Banden demoliert; sein wissenschaftliches Lebenswerk wurde bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 öffentlich den Flammen übergeben.

Das Buch macht mit den monströsen Bauplänen von Hitler und seinem Stararchitekten Albert Speer bekannt, die dem Spreebogen eine 320 Meter hohe Kuppelhalle sowie zahlreiche Bauten der NSDAP und der Wehrmacht beschert hätten. Zum Glück wurden diese Ideen wegen des Kriegsbeginns 1939 nicht verwirklicht. Allerdings war noch Zeit, die Siegessäule mitten auf dem Platz der Republik, das Bismarck-Denkmal und andere Standbilder, die im Wege standen, abzuräumen und an den Großen Stern zu versetzen, wo sie noch heute stehen.
>br> Das mit einer bis in die Eis- und Steinzeit zurückreichenden Chronik versehene und mit vielen unbekannten Bilddokumenten versehene Buch endet mit einem Blick auf den in Trümmern liegenden Spreebogen vor und nach der Errichtung der Berliner Mauer und schildert die Ereignisse nach deren Fall am 9. November 1989. Ganz zum Schluss stellt es die Bauten von Parlament und Regierung vor und gibt damit auch eine Antwort auf die Frage, wo das Bundeskanzleramt steht. Der Band erschien in der Berlin-Edition des quintessenz-Verlags (jetzt be.bra-Verlag Berlin) und kostet 24,80 Euro (ISBN 3-8148-0131-8).

Helmut Caspar

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