"Goering’s Atlas“ -
Fund eines hochbrisanten Kartenwerks belebt Forschung über Kriegsziele und Rüstungsproduktion der Nazis

Während Adolf Hitler und sein Propagandaminister Joseph Goebbels Ende April 1945 im Bunker unter der Reichskanzlei noch an den „Endsieg“ glaubten, setzten sich ihre Getreuen aus dem zerstörten Berlin ab. Reichsmarschall Hermann Göring schaffte es mit seinem Sonderzug bis nach Berchtesgaden. Nur zu gern hätte er seinen „Führer“ beerbt und sich zwei Minuten vor zwölf den Alliierten als Verhandlungspartner angeboten. Die aber lehnten brüsk ab. Hitler erhielt davon Wind und reagierte mit einem Tobsuchtsanfall. Er ließ den Verräter im fernen Bayern von SS-Leuten unter Hausarrest stellen. Nur knapp entging Göring einem gezielten Bombenangriff der Royal Air Force auf seine Unterkunft. Zwar überlebte der ehemalige Chef der deutschen Luftwaffe das Kriegsende am 8. Mai 1945, doch nach seiner Gefangennahme schrumpfte der großspurig schwadronierende Reichsmarschall ziemlich schnell zu einem Häufchen Elend. Die Fracht in seinem Sonderzug – Kunstschätze, Juwelen, Gold, Pelze, Möbel, Dokumente - fiel erst Franzosen in die Hände, die sich am Champagner gütlich taten, und dann den Amerikanern, die die Preziosen und die Papiere requirierten.

Das alles ist bekannt und wurde vielfach publiziert. Unbekannt ist, dass sich unter den Unterlagen in jenem Zug auch ein Atlas mit 33 großformatigen Blättern befand, der wegen seines brisanten Inhalts als „Geheime Reichssache“ eingestuft war. Das Kartenmaterial hatte Göring als Herr über alle Rüstungsbetriebe und Hitlers Beauftragter für den Vierjahresplan bei sich. Es unterstreicht, dass sich der Reichsmarschall bei Kriegsende noch als wichtige Persönlichkeit fühlte, auch wenn er Teile seiner früheren Macht schon längst an andere Gefolgsleute von Hitler hatte abgeben müssen.

Die 1946 den Amerikanern vorliegenden Karten belegen klar die wirtschaftspolitischen Kriegsziele der deutschen Führung um 1942/43 und zeigen, wo und was für die Wehrmacht von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen produziert wurde. Zwar ist bekannt, dass sich Hitler und seine Generalität immerzu über Karten beugten und auf ihnen mit bunten Stiften alle die Vorstöße und Rückzugsgefechte ihrer Truppen markierten. Was da aber konkret auf den Blättern stand und welche Bedeutung die Einträge zur Rekonstruktion der strategischen Gedankengänge des „größten Feldherrn aller Zeiten – Gröfaz“, wie Brecht sagte, und taktischen Maßnahmen besaßen, konnte nicht gesagt werden. Solche Karten existierten nicht mehr, und man musste sich auf Propagandareden, Befehle, Kriegstagebücher, Memoiren und andere Materialien verlassen.

Dass die Karten außerordentlich brisante Informationen enthalten, die sich gegen die Naziführer verwenden lassen, zugleich aber auch für den Wiederaufbau des zerstörten Europa wichtig sind und auch bei möglichen neuen Auseinandersetzungen mit dem bisherigen Verbündeten Sowjetunion eine Rolle spielen können, muss dem amerikanischen Geheimdienst sofort klar gewesen sein. So deutlich waren noch nie die auf Eroberung von Erz- und Kohlegruben sowie von Ölfeldern in West-, Nord- und Osteuropa ausgerichteten Kriegsziele offen gelegt. Die vielen bunten Kreise, Kringel und Pfeile, die statistischen Angaben und Zahlen geben zu allem Auskunft, müssen allerdings von Fachleuten zum „Sprechen“ gebracht werden. Möglich, dass das Kartenwerk auch bei der Potsdamer Konferenz der westlichen Siegermächte auf dem Tisch lag, als es um die Nachkriegsordnung Europas und seine Aufteilung in Einflussbereiche ging. Ob Stalin die Karten kannte, ließe sich nur in Moskau klären, wo man aber schweigt. Zu klären wäre, ob sie in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen eine Rolle spielten, in deren Ergebnis Göring & Co. zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden, wobei sich der ehemalige Reichsmarschall dem Vollzug durch Selbstmord entzog.

Erst jetzt wurde bekannt, dass der US-Geheimdienst 1946 einen für wenige Auserwählte bestimmten Nachdruck mit dem lapidaren englischen Titel „Goering’s Atlas“ und dem Vermerk „Top secret“ anfertigen ließ. Ein Exemplar kam in die Library of Congress in Washington. Warum, wie viel und wo diese Nachrucke hergestellt wurden, ist bisher unbekannt. Selbst bedeutenden Historikern war die Existenz der aussagestarken Blätter bisher verborgen; in Biographien von Naziführern wie Göring und Rüstungsminister Speer spielte der Atlas keine Rolle.

Das wäre auch so geblieben, hätte nicht im vergangenen Jahr der Leiter des Braunschweiger Archivverlags Peter Wille durch Zufall davon Kenntnis bekommen, dass eine ältere Hamburgerin im Nachlass ihres Vaters ein Exemplar jenes US-Nachdrucks fand. Der Vater muss als Geschäftsmann Kontakt zur amerikanischen Besatzungsmacht in Berlin gehabt haben, doch wie der Atlas in seinen Besitz gelangte, konnte die Tochter auch nicht sagen. Wille kaufte die Rarität für einen „mäßigen Preis“ und hat davon jetzt einen neuen Reprint anfertigen lassen. Das Original übereignete er der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, die dem Verlag schon manche bibliophile Kostbarkeit zum Nachdrucken überlassen hat.

Die technisch mit großem Aufwand hergestellte Ausgabe mit einem Vorwort des Bielefelder Historikers Werner Abelshauser ist jetzt in einer Auflage von zunächst tausend Exemplaren verfügbar. „Das Kartenwerk war das Handwerkszeug des Rüstungsdiktators Göring, eines Mannes, der seit 1936 im Auftrag von Hitler die Kriegsindustrie systematisch vorantrieb und mitbeteiligt war an der Formulierung und Forcierung der auf Eroberung von Rohstoffquellen und Industriestandorten in Europa bis hin zum Ural gerichteten Kriegspolitik. Er vermittelt wichtige Einblicke in die strategischen Gedankengänge der Nazis und über die von ihnen ausgebeuteten Ressourcen“, erklärte der Professor unlängst im Berliner Alliiertenmuseum bei der Vorstellung des Göring’schen Kartenwerks. „Die dort eingetragenen Daten aus dem Jahr 1944 stimmen mit denen überein, die wir mühsam aus anderen Geheimpapieren – Statistiken, Gutachten, Prognosen - gefiltert haben. Hier ist alles auf einen Blick erkennbar. Der Atlas wird sich als wichtiges Quellenwerk zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs erweisen und auch die Verstrickung der deutschen Rüstungsindustrie in den Völkermord weiter aufhellen“.

Der Wirtschaftshistoriker hofft, dass die Veröffentlichung der Karten die Geschichtsforschung belebt und dadurch auch neue Informationen zur deutschen Kriegspolitik und Rüstung, über die Eroberung von so genanntem Lebensraum, die Versklavung ganzer Völkerschaften und den Massenmord ans Tageslicht kommen. „Vielleicht findet sich in Nachlässen und Archiven etwas, was den Verbleib der originalen Blätter und die Herstellung der hoch geheimen Nachdrucke durch die Amerikaner erklärt. Nicht ausgeschlossen, dass weitere bisher unbekannte Unterlagen aus dieser Zeit entdeckt werden. Der Fund wird die Suche verstärken, und er zeigt einmal mehr, dass ungeachtet intensiver Forschung über die NS-Zeit vieles noch nicht aufgeklärt ist.“ Übrigens haben die Forscher aus der Affäre um die gefälschten Hitlertagebücher gelernt und „Goering’s Atlas“ auf Herz und Nieren prüfen lassen. Die Karten sind tatsächlich echt und fast 60 Jahre alt.

Der Nachdruck von „Goering’s Atlas“ hat 33 aufklappbare Karten, wird in einer handgearbeiteten Buchdecke mit Messingverschraubung angeboten und kostet 178 Euro. Bestellungen direkt beim Archiv Verlag, Neckarstraße 7, 38120 Braunschweig, Tel. 0531/1222111.

Helmut Caspar

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