"Zille, du hast jesacht, wies is“ -
Vor 75 Jahren starb der Zeichner der kleinen Leute und des Berliner Milljöhs



„Uns kann keener“. Heinrich Zille schuf dieses Aquarell im Jahre 1911. (Repro: Heinrich-Zille-Museum Berlin)

Als Heinrich Zille um 1900 seine Karriere als Zeichner des Berliner „Milljöhs“ startete, waren die Meinungen über diesen neuen Stern am Himmel der Humoristen geteilt. Vertreter und Nutznießer des offiziellen Kunstgeschmacks Wilhelms II. sprachen von Abschaum und Gosse. Sie zitierten damit ihren kaiserlichen Herrn und Auftraggeber, der die damals um sich greifende sozialkritische Moderne als „Rinnsteinkunst“ verteufelte und forderte, Kunst möge erheben und nicht herabziehen, denn es gebe schon genug Elend.

Die so von Deutschlands oberstem Kunstrichter Gescholtenen wie Käthe Kollwitz, Max Liebermann, Hans Baluschek, Gerhart Hauptmann und eben auch Heinrich Zille hefteten sich das kaiserliche Verdikt stolz ans Revers, trennten sich vom offiziellen Kunstbetrieb, machten als Sezessionisten Furore. Zille, der „Rinnsteinkünstler“, entdeckte noch im schlimmsten Dreck und Elend einen Lichtstrahl, in der dunkelsten Hinterhofecke eine mickrige Blume. Allerdings: seine Bilder gingen nicht so weit, die Herrschaftsverhältnisse und insbesondere das autoritäre Gehabe Wilhelms II. anzugreifen und nach Alternativen zu rufen. Das taten andere mit spitzer Feder und scharfer Zunge – und handelten sich Verfahren wegen Majestätsbeleidigung und Landesverrat ein. Selbst wenn Zille eine Selbstmörderin zeichnete, die mit ihrem Kind ins Wasser springen will und von Passanten von diesem letzten Schritt abgehalten werden, lautet der Bildtext nur „Des Lebens satt“, oder wenn er einen aus dem vierten Stock gesprungenen Mann in einer Blutlache zeigt, ist das für ihn kein Anlass, in die Trompete der Revolution zu stoßen. Auch der Invalide, der mit nur einem Bein und zwei Krücken aus dem Krieg kommt, ist für Zille kein Grund, das unsinnige Abschlachten anzuklagen. „Nun Bruder nimm den Bettelsack Soldat bis Du gewest“, kommentiert der Künstler.

In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, hatte sich der 1858 in Radeburg bei Dresden geborene Zille hochgearbeitet, war in fortgeschrittenem Alter sogar Mitglied der Akademie der Künste und Professor geworden, wohnte im vornehmen Charlottenburg. Als er neun Jahre alt war, zog die Familie nach Berlin; mit vierzehn erlernte er den Beruf des Lithographen und fand mit neunzehn eine schlecht bezahlte Anstellung bei der Photographischen Gesellschaft. Von daher kommt Zilles zweite Liebe, die Fotografie, die er auch bei der Suche nach Motiven aus dem Leben der kleinen Leute erfolgreich nutzte.

Selber irdischen und vor allem alkoholischen Freuden nicht abgeneigt, war Zille, nach seinem Abschied von der Photographischen Gesellschaft (1908) selbstständig, ein gern gesehener Gast in Berliner Kneipen und Destillen, wo er vor sich hin im Fuselrauch dösende Familienväter, dicke Mütter und ihre stets bläkenden Kinder mit rachitisch-krummen Beinen auf einzigartige Weise abschilderte. Und dann diese Szenen in den Schrebergärten, beim Picknick im Grünen oder an überfüllten Volksbädern! Oder die armseligen Typen, die auf dem eisigkalten Weihmachtsmarkt Selbstgebasteltes verkaufen wollen oder sich an wunderbar erleuchteten Schaufenstern die Nasen platt drücken und genau wissen, dass sie von all den Herrlichkeiten nichts abbekommen werden. Das ganze Gegenteil dieser lärmenden, mal melancholischen, mal beschwingten Alltagszenen sind die Zeichnungen, Aquarelle und Radierungen, die dem dunklen, geheimnisvollen Berlin gewidmet sind. Zille bekam Ärger mit der Zensur, als er sehr drastisch und detailfreudig schilderte, wie „Schlafmeechens“ Sex mit „scharfen Jungs“ in der Hinterstube haben, und das nicht nur im einfachen Paarbetrieb, sondern gleich mit mehreren Leuten zusammen.

Als Heinrich Zille vor nunmehr 75 Jahren, am 9. August 1929, einundsiebzigjährig starb, folgten unzählige Menschen dem Trauerzug bis hinaus auf den Stahnsdorfer Waldfriedhof. „Pinselheinrich“, wie man ihn liebevoll nannte, galten ehrende Nachrufe. Er blieb bis heute populär, auch wenn sich gottlob die Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse, die er so unnachahmlich aufs Korn genommen hatte, grundsätzlich geändert haben. Seine akademisch, heldisch und historisierend malenden Widersacher hingegen sind zumeist vergessen, und ihre Werke verstauben in den Museumsdepots. „Zille, du wahrst ein jrossa Meista; Du hast jesacht, wies is“, schrieb Kurt Tucholsky, und Käthe Kollwitz fasste ihr Urteil in folgenden Worten zusammen: „Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter – und es sind Meisterwerke“.

Aus dem Plan, in Berlin ein dem Zeichner der kleinen Leute, der Huren und Luden, der Schlummermütter, Kneipiers, Pferdeschlächter, Hinterhofjongleure, Rummelboxer, der Kindermädchen und kalten Mamsells gewidmetes eigenes Museum einzurichten, wurde zu Zilles Lebzeiten und danach nichts. In der Nazizeit waren seine Typen nicht gefragt, weil sie nicht deutsch und kernig genug waren, und in DDR-Zeiten hat man den wenig klassenkämpferischen Charakter seiner Bilder bemängelt, sie aber immer gesammelt und publiziert. So kam es, dass 2002, 73 Jahre nach Zilles Tod, im Berliner Nikolaiviertel ein eigenes Zille-Museum eröffnet werden konnte. Dort sind auch die für das Mappenwerk „Hurengespräche“ geschaffenen Lithographien ausgestellt. Vorsichtshalber sind diese von Zilles unnachahmlicher Handschrift kommentierten Bilder und einige bisher als verschollen angesehenen Zeichnungen pornographischen Inhalts in einem kleinen Kabinett ganz am Schluss der Ausstellung zu sehen, in das sich vielleicht nicht jeder Besucher verirrt.

In Bronze gegossen, steht der Künstler seit 1965 wenige Schritte vom Köllnischen Park unweit des Märkischen Museums. Der Bildhauer Heinrich Drake zeigt „Pinselheinrich“ stehend bei seiner Arbeit. Ein Berliner Junge schaut dem Meister über die Schulter. Zille, den Schlapphut auf dem Kopf, den unvermeidlichen Zigarrenstummel im Mund, ist, über seinen Brillenrand blickend, gerade dabei, eine Straßenszene im Skizzenblock festzuhalten. Ausgebeult sind die Taschen seines Jacketts mit Mal- und Zeichenutensilien darin. Der junge Arbeiter, der ungebeten die Zeichnung beäugt, demonstriert die Tuchfühlung, die der Künstler für sein Werk brauchte.

Der Standort des Zilledenkmals von 1965 - ein älteres von Paul Keutsch aus dem Jahre 1930 in der Bergstraße ist verschwunden – ist gut gewählt. Denn in Alt-Berlin fand der Zeichner seine Typen, die ihm Freunde waren. In Kneipen wie dem „Nussbaum“ oder auch im „Metzer Eck“ war Heinrich Zille ein gern gesehener Gast. Dort nahm man ihn liebe- und respektvoll auf, ließ ihn nicht spüren, dass er als Akademiemitglied und Kunstprofessor ja eigentlich etwas „Besseres“ ist. „Im Nussbaum links vom Molkenmarcht, / Da hab' ick manche Nacht verschnarcht, / Da malt der Vater Zille! / Die Jäste, die sind knille!“, sang die Kabarettistin und Chansonsängerin Claire Waldorff. Mit dem „Nussbaum“ war das Altberliner Wirtshaus auf der Fischerinsel gemeint, das DDR-Hochhäusern weichen musste. Es hat im Nikolaiviertel 1987 eine originalgetreue Zweitauflage erhalten, und auch hier wird, wie wenige Schritte weiter im Zillemuseum, das Andenken an den Maler des Berliner „Milljöhs“ gepflegt.

Helmut Caspar

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