"Wenn das Geld im Kasten klingt, ..." -
Angeblich sollten der Erwerb von Ablässen und der Besitz von Reliquienkult Höllenqualen mildern

Kostbare Reliquiare zählen zu Spitzenstücken der Goldschmiedekunst und wurden in so genannten Heiltumsbüchern publiziert, hier in einer Wiener Ausgabe von 1502. (Repro: Archiv)

Würde man alle in Kirchen und Klöstern aufbewahrten Splitter vom Kreuz zusammen tun, an dem Jesus Christus starb, ergäbe das sicher mehrere Holzkreuze, und auch heiligen Frauen und Männern werden mehr Schädel und Knochen zugeordnet, als sie je besessen haben. Im Mittelalter nahm man es nicht so genau mit solchen Reliquien. Wichtig war, dass man eine noch so kleine Hinterlassenschaft verehren oder zu ihr pilgern konnte, einen kleinen Knochen oder auch ganze Skelette, eine Träne oder einen Blutstropfen in einem Glasfläschchen, ein Kleidungsstück oder auch Reste von Marterwerkzeugen, mit denen Heilige gequält oder vom Leben zum Tode befördert wurden.

Mit den oft sehr strapaziösen Pilgerfahrten konnte man sich von Sünden reinigen und entkam so dem höllischen Fegefeuer, das den Menschen des Mittelalters auf Schritt und Tritt für ihre Missetaten angedroht wurde. Für einen kleinen Obolus durfte man Reliquien berühren, für eine schöne Summe gar welche nach Hause nehmen. Zum Beweis, dass man an einer Pilgerreise teilgenommen hat, wurden Abzeichen aus Blei, Bronze oder gar edlem Metall verkauft. Eine ganze Industrie hat sich schon im Mittelalter mit der Herstellung und dem Verlauf von Reliquien und anderen Devotionalien beschäftigt.

Überall saßen in den Wallfahrtsorten Reliquienhändler, die allerlei heilige Überbleibsel verkauften, aufbewahrt in einfachen Schachteln oder kostbaren Behältern und versehen mit Schriftbändern. Wer solche Reliquien besaß, war der Überzeugung, dass ein Stück Heiligkeit desjenigen, von dem er einen Rest besitzt, auf ihn übergeht. Wer wohlhabend und wichtig war, kaufte nicht einen heiligen Zahn oder einen kleinen Fingerknöchel sondern gleich einen ganzen Schädel oder ganze Hand, sofern gerade im Angebot. Man fragte nicht nach der Herkunft oder nach der erstaunlichen Menge der Knochen, von denen der Mensch nur eine bestimmte Anzahl besitzt.

Durch Erwerb von Reliquien konnte man schon ein paar hundert Jahre Höllenqual einsparen. Den gleichen Effekt hatte man, wenn man einen Ablass von den Sünden erkaufte. "Wenn das Geld im Kasten klingt, im hui die Seele in den Himmel springt" dichtete man im frühen 16. Jahrhundert. Da sich niemand von seinen Sünden freikaufen kann, wie schon in der Bibel festgestellt wird, damit aber viel Schindluder getrieben wurde und der Ablasshandel großen Unmut stiftete, waren Widerstand und Aufbegehren nicht verwunderlich.

Die Kirchenrevolte, die der Augustinermönch und Professor Martin Luther 1517 durch den Anschlag seiner 95 Thesen an die Schlosskirche zu Wittenberg auslöste, resultiert aus der Unzufriedenheit über solche Missstände. Luther wusste, wovon er sprach, besaßen doch der Kurfürst von Sachsen, sein Landesherr, und Kardinal Albrecht von Mainz, ein geborener Markgraf von Brandenburg, die wohl prächtigsten Reliquiensammlungen und machten damit auch viel Werbung für sich durch Veröffentlichung von so genannten Heiltumsbüchern. Versteht sich, dass einzelne Überbleibsel oder die kompletten Skelette von Heiligen kostbar eingefasst wurden. Solche Reliquiare aus Gold und Silber mit herrlichem Edelstein- und Perlenbesatz gehören zu den Spitzenstücken der mittelalterlichen und neuzeitlichen Goldschmiedekunst. Noch heute werden sie in katholischen Gegenden bei Prozessionen herum geführt. Die Verehrung solcher kostbaren Gefäße konnte Ablass bewirken, ohne dass die Gläubigen gezwungen waren, wirklich Buße zu tun. Dass Reliquien in bestimmten Gegenden auch heute nichts von ihrer Anziehungskraft, ihrem Mythos verloren haben, zeigen Prozessionen an kirchlichen Feiertagen und zu bekannten Wallfahrtsorten.

Helmut Caspar

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