Lenins Warnungen in den Wind geschlagen
Vor 80 Jahren verschwieg Stalin Lenins letzten Willen



Stalin ließ sich als legitimer Nachfolger Lenins, weiser Führer seines Landes und des Weltproletariats und im Zweiten Weltkrieg als großer Militärstratege feiern. Nach seinem Tod (1953) bröckelte sein Mythos. (Foto: Archiv)

Der sowjetische Diktator Josef Stalin ließ sich als legitimer Nachfolger des 1924, vor nunmehr 80 Jahren, verstorbenen Parteiführers Wladimir Iljitsch Lenin feiern und bereitete ihm ein prunkvolles Staatsbegräbnis. Lenins mühevoll konservierter Leichnam wurde in einem eigens an der Moskauer Kremlmauer errichteten Mausoleum aufgebahrt. Als Stalin 1953 starb, stellte man seinen Sarkophag dazu. Es sollte nur acht Jahre dauern, bis man den toten Machthaber und Massenmörder Stalin klammheimlich aus dem Mausoleum holte und an der Kremlmauer erneut bestattete.

Nach Stalins Tod kam langsam die Wahrheit ans Tageslicht, wer der „Stählerne“, der eigentlich Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili hieß, wirklich war. Die Welt hielt 1956 und in den folgenden Jahren den Atem an, als der Umfang der Verbrechen des Diktators und Massenmörders und seiner vielen Helfershelfer und Zuträger bekannt wurden. Nach der Oktoberrevolution (1917) war Stalin als Volkskommissar für Nationalitätenfragen Lenins Mann fürs Grobe. Indem er gewaltsam mit Hilfe der Roten Armee und des Geheimdienstes die von Russland abgefallenen Kaukasusvölker in den sowjetischen Herrschaftsbereich eingliederte und oppositionelle Kräfte liquidierte, machte er sich Lenin unentbehrlich. Stalin kletterte in der Parteihierarchie von einer Stufe zur anderen, wurde 1922 Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU und arbeitete unermüdlich an der Stärkung seiner Machtposition mit dem Ziel, die Nachfolge des erkrankten Lenin zu erringen. Durch Intrigen und falsche Beschuldigungen verloren Mitwisser und Rivalen, etwa Leo Trotzki, ihre Partei- und Regierungsämter, vielfach auch ihr Leben.

Lenin beobachtete die Entwicklung seines früheren Schützlings mit Besorgnis und warnte die Kommunistische Partei ausdrücklich vor ihm. In einem Brief von 1922 an den Parteitag, der auch als Lenins Testament bezeichnet wird, äußerte Lenin seine Zweifel, ob Stalin in der Lage ist, die in seiner Hand konzentrierte ungeheure Machtfülle mit genügender Vorsicht anzuwenden. „Stalin ist zu schroff, und dieser Fehler... ist in dem Amt des Generalsekretärs untragbar“, schrieb Lenin und forderte für den Posten einen Menschen, „der geduldiger, loyaler, höflicher, aufmerksamer gegenüber den Genossen und weniger launenhaft ist“.

Natürlich verschwieg Stalin die Warnungen des großen Idols Lenin. Nach seinem Tod trat ein, wovor der Staatsgründer gewarnt hatte. Stalin schwang sich zum Alleinherrscher auf, zu einem roten Zaren, der nach und nach alle seine Konkurrenten ausschaltete und jegliche innerparteiliche Opposition unterdrückte. Zugleich spielte er sich als Vollstrecker der Leninschen Politik auf, ließ sich als „Lenin von heute“ feiern und schwor, im Sinne des sowjetischen Partei- und Staatsgründers dem Sozialismus und Kommunismus im Vaterland aller Werktätigen und darüber hinaus auf der ganzen Welt zum Sieg zu verhelfen.

Viele Fotos und Filmaufnahmen, die Lenin mit Freunden und Funktionären zeigen, die in der Stalinzeit als angebliche Parteischädlinge und Volksfeinde verfolgt und hingerichtet wurden, verschwanden in den Archiven. Wo es sich anbot, haben Stalins Geschichtsfälscher Gesichter getilgt oder übermalt und so die Erinnerung an ehemalige Kampfgefährten und Konkurrenten gelöscht.

Helmut Caspar

Mit "Zurück" zur Themenübersicht "Mythen der Geschichte"