Teil 4 und Schluss: Otto der Faule war bei Schülern besonders beliebt -
Vor über hundert Jahren wurde am Joachimsthalschen Gymnasium über ein skurriles Aufsatzthema geschrieben



Karikaturisten nahmen um 1900 die Berliner Siegesallee auf Korn. Otto den Faulen lassen sie neben dem Postament schlafen. (Repro: Caspar)

Ein Lehrer des Joachimsthalschen Gymnasiums in Wilmersdorf bei Berlin, Professor Dr. Otto Schroeder, kam 1901 auf die ungewöhnliche Idee, seine Schüler einen Hausaufsatz über „Die Beinstellung der Denkmäler in der Siegesallee“ schreiben zu lassen. Die Niederschriften von vier Oberprimanern der renommierten Schule gelangten auf verschlungenen Pfaden unter die Augen Kaiser Wilhelms II., des Stifters der mit Standbildern brandenburg-preußischer und anderer Herrscher geschmückten Ruhmesstraße im Berliner Tiergarten. Der Monarch las die Aufzeichnungen mit Wohlgefallen, zensierte sie noch einmal und versah sie mit Randbemerkungen, als ob es sich um Staatsdokumente handeln würde. Am Joachimsthalschen Gymnasium, das 1607 im uckermärkischen Joachimsthal gegründet worden war, wurden die durch Kaisers Hand veredelten Hefte als Reliquien archiviert. Wenigstens bis 1945 sollen sie sich im Archiv der berühmten Schule befunden haben, die ihre letzten Jahrzehnte in Templin verbrachte, bis sie 1953 aufgelöst wurde. Vorsichtshalber wurden von den Aufsätzen Faksimiles angefertigt und dem Berliner Hohenzollern-Museum anvertraut. Um unnötiges Aufsehen zu vermeiden und den Monarchen vor Kritik zu schützen, erging 1902 an den Museumsdirektor Professor Dr. Paul Seidel die Anweisung, die Kopien vor unbefugte Blicken zu schützen, hoffend, dass man „die Sache“ nach Jahrzehnten milder beurteilt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg infolge von kriegsbedingter Auslagerung im Zentralen Staatsarchiv der DDR in Merseburg verwahrt, wurden die Aufsätze erstmals 1960 von dem sieben Jahre zuvor in Ungnade gefallenen SED-Funktionär Rudolf Herrnstadt (1903-1966) unter dem Titel „Die Beine der Hohenzollern“ publiziert und vom marxistisch-leninistischen Klassenstandpunkt aus kommentiert. Der ehemalige Chefredakteur des Parteiorgans „Neues Deutschland“ konnte dies nicht unter seinem richtigen Namen tun, sondern musste das Pseudonym R. E. Hardt benutzen. 1990 und 2001 erfolgten aktualisierte Neuausgaben.

Wir wissen nicht, wie Otto Schroeder die Aufgabe für den Aufsatz erläuterte, ob er es humorvoll oder streng wissenschaftlich tat und was die Schüler im Tiergarten anstellten, als sie die Figuren besichtigten. Die Oberprimaner unternahmen Detailstudien vor allem an den Beinen, zählten stramme Schenkel und schlaffe Waden zusammen und verglichen sie miteinander. Schaut man sich die Schüleraufsätze an, so wird man unschwer feststellen, dass der Lehrer bei der Korrektur seine Not hatte, den Gedanken seiner Zöglinge zu folgen. Kräftige Striche mit blauem Stift am Seitenrand, Fragezeichen, Klammern und andere Markierungen im Text sind der Beweis. Schroeders Urteil fiel meist wenig freundlich aus, das des Kaisers hingegen ist positiver, denn natürlich glaubte der Denkmalstifter mehr von Kunst und Geschichte zu verstehen als ein subalterner Gymnasialprofessor.

Genialisches ist bei den Aufsätzen nicht zu entdecken. Die Schüler hielten sich streng an die Vorgaben, betrachteten schematisch erst die rechten Fürstenbeine, die vorgestellt sind, dann die linken Beine oder umgekehrt. Sie registrierten auch abweichende Stellungen und Körperhaltungen wie das als weichlich geltende Übereinanderschlagen der Beine und das Anlehnen an einen Baumstamm. Diese Stellungen werden eher kraftlosen, unkriegerischen, bequemen Herrschern zugeordnet. Deren Tun und Lassen stimmte so gar nicht mit dem Ideal eines energiegeladenen Landesherrn überein, der Entscheidungen mehr mit „Blut und Eisen“ herbeiführte, als dass er mit dem Kopf und klugen Beratern arbeitete. Letzteres scheint in der kaiserzeitlichen Wertehierarchie niedriger angesiedelt gewesen zu sein als die Durchsetzung monarchischer Ziele mit Schwert und kasernenhofmäßigen Befehlston.

Bei ihrer Mühe, aus der Beinstellung auf Charakter und historische Leistung eines Herrschers zu schließen, war es für die Gymnasiasten sicher erholsam, auf eine Figur zu treffen, der man humorvolle Betrachtungen widmen konnte. Ein solcher Monarch war König Friedrich Wilhelm II., der Neffe und Nachfolger Friedrichs des Großen. War dieser ein Musensohn und Bauherr, vor allem aber ein großer Feldherr, so kannte man den „dicken Wilhelm“, wie die Berliner den Nachfolger des Großen Königs nannten, eigentlich nur als Frauenheld und Lebemann. Ein solcher Herrscher konnte nur mit schlaffen Knien dargestellt werden, träge, antriebslos, aufgeblasen, abgehoben.

Wie Friedrich Wilhelm II., der als Begründer des Klassizismus in Preußen und Bauherr des Brandenburger Tors in Berlin in die Geschichte einging und seinem Reich das „Allgemeine Landrecht“ brachte, so passte auch ein anderer Herrscher nicht richtig in die marmorne Heldensammlung – Markgraf Otto der Faule, ein Vertreter der vor den Hohenzollern auf dem brandenburgischen Thron sitzenden, ansonsten in Bayern regierenden Wittelsbacher. Auf den vom Bildhauer Adolph Brütt gestalteten Landesfürsten mit den herabhängenden Augenlidern stürzten sich die Gymnasiasten mit besonderer Wonne. Mit ihrem Interesse an dem Schwächling waren sie nicht allein, denn es ist überliefert, dass sich besonders viele Berliner Kinder und Schüler bei Führungen entlang der Siegesallee vor diesem in ziemlich lascher Haltung und mit „blödem Gesicht“, wie man sagte, dargestellten Fürsten versammelten und ihre Witze machten. Ein solcher Mensch war eigentlich unwürdig, brandenburgische Geschichte auf der Ruhmesstraße zu repräsentieren. Da aber Wilhelm II. bei der Siegesallee Vollständigkeit befohlen hatte, musste auch Otto VIII., der Faule, aufgestellt werden.

Die Gedankenspiele rund um diesen Markgrafen basieren auf dem ihm erst später angedichteten lateinischen Beinamen Otto ignavus, was so viel heißt wie Otto der Faule oder der Träge. Nach einer anderen Deutung aber soll der Wittelsbacher, ein Schwiegersohn Kaiser Karls IV., eine Hautkrankheit gehabt haben, was ihm einen anderen Cognomen, nämlich „der Faulige oder der Finnige“ verschaffte. Mag sein, dass dieser Otto aufgrund von menschlichen oder medizinischen Unzulänglichkeiten, aber auch aus wirtschaftlichen und politischen Gründen in seiner Handlungsfähigkeit beeinträchtigt war. Wie ein Blick in die Historie zeigt, war Otto keineswegs „faul“ im herkömmlichen Sinne, etwa wie ein Schüler, der seine Aufgaben nicht erledigt. Vielmehr war er sogar ziemlich gewitzt, weil er sich aus Brandenburg zurückzog, als er sah, dass er gegen die Übermacht seines zur Herrschaft in der Mark drängenden Schwiegervaters Kaiser Karl IV. nichts ausrichten konnte. Sein volkstümlicher Beiname könnte damit zusammenhängen, dass er sich nach seiner mit einer hohen Abfindung von 500 000 Gulden verbundenen Abdankung ein bequemes, man könnte auch sagen faules Leben gönnte. Dieses währte allerdings nicht lange, denn Otto VIII. starb schon mit 30 Jahren. Sein Denkmal, das den ehrenrührigen Beinamen ausdrücklich erwähnt, stellt einen durch Nichtstun gealterten Mann in schlaffer Körperhaltung dar, und so lautete die Botschaft denn auch: seht, so werdet ihr sein, wenn ihr faul, träge und schlafend wertvolle Zeit vertut.

Helmut Caspar

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