Gigantische Wiederaufbauhilfe für Westeuropa -
Vor 60 Jahren wurde in den USA der Marshallplan zur Unterstützung vieler vom Zweiten Weltkrieg betroffener Länder und zur Abwehr der „roten Gefahr“ verkündet



Mit bunten Plakaten wurde in den frühen fünfziger Jahren für den Marshallplan geworben. (Repro: Caspar)

Nach dem Zweiten Weltkrieg lagen in Europa Landwirtschaft, Industrie und Rohstoffgewinnung, das Verkehrswesen und überhaupt fast alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens zu großen Teilen am Boden. Viele Städte waren zerbombt, Epidemien forderten ihre Opfer. Millionen Menschen irrten heimatlos umher und waren von Hunger, Krankheit und Tod bedroht. Mutlosigkeit machte sich breit, viele Menschen waren für radikale Ideen empfänglich. Europa fehlte es an Devisen, um im nichteuropäischen Ausland, vor allem in den USA, Rohstoffe, Werkzeuge und Maschinen zum Wiederaufbau der schwer angeschlagenen Wirtschaft sowie Nahrungsmittel für die notleidende Bevölkerung zu beschaffen.

Dieser sicherheitspolitisch wie humanitär unhaltbare Zustand konnte nicht länger geduldet werden, und so wurde vor 60 Jahren der Marshallplan zum Wiederaufbau Westeuropas einschließlich der drei westdeutschen Besatzungszonen gestartet. Benannt wurde das gigantische Wiederaufbauprogramm nach dem US-Außenminister George C. Marshall. Er hielt am 4. Juni 1947 an der Harvard Universität einen Vortrag, in dem er sich für ein umfangreiches Hilfsprogramm gegen Hunger, Armut und Verzweiflung aussprach. Dreizehn Milliarden Dollar sollten in sechzehn besonders hilfsbedürftige Länder investiert werden. Unter ihnen waren Großbritannien, Frankreich, Italien und das ehemalige Deutsche Reich.

Der Beginn der „Hilfe zur Selbsthilfe“ nach Marhalls Plan fiel zusammen mit dem Beginn des Kalten Kriegs, der dem heißen Krieg fast auf den Fuß folgte. Von Stettin an der Ostsee bis nach Triest an der Adria habe sich ein „Eiserner Vorhang“ über Europa gesenkt, und es müsse alles dafür getan werden, um die westliche Hemisphäre vor dem Kommunismus zu schützen, forderte der bisherige britische Premierminister Winston Churchill in Übereinstimmung mit dem amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman. Das beste Mittel dafür waren gigantische Warenlieferungen, zum Teil nicht rückzahlbare Kredite sowie Aufträge an die Wirtschaft der von den Kriegsfolgen schwer getroffenen Länder. In diesem Sinne verabschiedete der US-Kongress am 3. April 1948 ein auf dem Marshallplan fußendes Auslandshilfegesetz, mit dem bis 1952 über 13 Milliarden US-Dollar für Unterstützungsmaßnahmen bereitgestellt wurden. Die Unterstützung geschah nicht uneigennützig und auch nicht aus reiner Nächstenliebe, denn den USA fehlten leistungsfähige Handelspartner, die erst wieder reaktiviert werden mussten. Im Ergebnis des Marhallplans gaben die Europäer 70 Prozent der Hilfsgelder in den USA für den Kauf von Gütern aus – und halfen der noch ganz auf Militärerzeugnisse fixierten amerikanischen Wirtschaft auf die Beine. Sie schaffte mit Hilfe der Lieferungen nach Westeuropa den Sprung in die Friedensproduktion.

Nicht von der Hand zu weisen war die bei amerikanischen Politikern und Wirtschaftsbossen verbreitete Vorstellung, Westeuropa könne ohne amerikanische Hilfe in den Einflussbereich der Sowjetunion geraten. Diesen Zustand betrachtete die von einer panischen Kommunistenfurcht befallene US-Regierung als Bedrohung für ihre Sicherheit, weshalb sie alles daran setzten, ihren Einflussbereich zu stabilisieren und die Westbindung durch massive Wirtschafts- und Technologiehilfe auszubauen. Insbesondere galt es, das von den westlichen Siegermächten besetzten Deutschland als Puffer gegen Stalins Expansionspolitik zu stärken und es in das freie Europa zu integrieren, eine Strategie, die beim CDU-Vorsitzenden und ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer und seinen Anhängern auf fruchtbaren Boden fiel.

Die Sowjetunion lehnte die Teilnahme an der Marshall-Hilfe ab, in dem ein „Instrument des Dollarimperialismus” sah. Stalin wollte nicht zulassen, dass irgendjemand aus seinem Herrschaftsbereich ausbricht, und sei es nur, indem er Lebensmittel, Brennstoff und Maschinen annimmt. Lieber sollten die Menschen hungern. Auf seinen Druck hin zogen auch Polen und die Tschechoslowakei ihr bereits bekundetes Interesse an den amerikanischen Lieferungen zurück.

Während in der Sowjetischen Besatzungszone, ab 7. Oktober 1949 DDR, aufgrund des Potsdamer Abkommens alles demontiert wurde, was nicht niet- und nagelfest war, und sich hinter dem Eisernen Vorhang Eiseskälte ausbreitete, kamen die Länder Westeuropas langsam zu Kräften. Fast ein Viertel der Marshallplan-Hilfe wurde zum Wiederaufbau der Westzonen des untergegangenen Deutschen Reiches aufgewandt. Ziel war es, hier die „Lokomotive der europäischen Wirtschaft“ unter Dampf zu setzen. Erste Hilfe in den Westzonen organisierte US-Militärgouverneur Lucius D. Clay mit Unterstützung der Organisation Cooperative for American Remittance to Europe (CARE). Sprichwörtlich wurden die an Bedürftige ausgelieferten 2,5 Millionen CARE-Pakete aus Beständen der US-Streitkräfte.

Als im Zeichen des Kalten Krieges ab 1949 die Spannungen zwischen West und Ost immer stärker wurden, flossen mehr und mehr Mittel aus dem Marshall-Plan in Militärausgaben statt in das wirtschaftliche Aufbauprogramm. Es erreichte sowohl seine kurzfristigen als auch seine langfristigen Ziele, denn als die Hilfe 1952 eingestellt wurde, war die Gefahr einer Einflussnahme der UdSSR auf Westeuropa weitgehend abgewendet. Die Industrieproduktion lag nach vier Jahren Marshallplanhilfe erheblich über dem Vorkriegsstand, und die junge Bundesrepublik war ein eigenständiger Staat, in dem das „Wirtschaftswunder“ aufblühte.

Vergessen war bei der Verkündung des Marshallplans eine andere Idee vom September 1944, der nach dem US-Finanzminister Henry Morgenthau jr. benannte Morgenthauplan. Er sah die Zerstückelung des Hitlerreichs, die Demontage der Fabriken und die Umwandlung des Landes in einen schwachen, entmilitarisierten Agrarstaat vor. Nachdem das abenteuerliche Gedankenspiel in die amerikanische Presse gelangt war und dort entrüstete Reaktionen hervorgerufen hatte, sahen sich der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt und der britische Premierminister Churchill gezwungen, sich von dem Morgenthauplan zu distanzieren und alternative Ideen zu entwickeln, um dem Deutschen Reich, wenn es denn niedergerungen ist, auf die Beine zu helfen und es irgendwann einmal wieder in die Völkergemeinschaft aufzunehmen. Diese Überlegungen mündeten in den von George C. Marshall vor 60 Jahren verkündeten Plan zur Wiederbelebung Europas.

Helmut Caspar

Mit "Zurück" zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"