Tilsit und die Folgen -
Zwar beendete vor 200 Jahren das Oktoberedikt die Erbuntertätigkeit der Bauern,
doch blieben viele Probleme ungelöst



Viele Gutsbesitzer behandelten ihre Untertanen unmenschlich. Daniel Chodowiecki schildert auf dem Kupferstich, wie ein Gutsherr seinen Knecht verprügelt. (Repro: Caspar)

Die Schlacht von Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 war ein Wendepunkt in der preußischen Geschichte. Die Soldaten König Friedrich Wilhelms III. unterlagen dem französischen Heer, Kaiser Napoleon I. besetzte kurz darauf Berlin und dekretierte die gegen England, Frankreichs Hauptfeind, gerichteten Kontinentalsperre. Während dessen sannen Friedrich Wilhelm III. und sein Verbündeter Zar Alexander I. von Russland auf Revanche. Doch war beiden Monarchen das Kriegsglück nicht hold, und so sahen sich der Russe und der Preuße gezwungen, mit Frankreich in Friedensverhandlungen einzutreten. Sie fanden Anfang Juni 1807 in Tilsit an der preußisch-russischen Grenze statt. Die Friedensbedingungen waren für den mit einigem Landgewinn bedachten Zaren günstig, hatten aber für Preußen zunächst katastrophale, dann aber doch auch segensreiche Folgen.

Friedrich Wilhelm III. büßte die Hälfte seines Landes und seiner Untertanen ein, sein Heer wurde von 200 000 auf 42 000 Mann reduziert. Preußen musste sich zu Kontributionen in Höhe von 120 Millionen Francs, das waren 42 Millionen Taler, an Frankreich verpflichten. Solange die Schuld nicht bezahlt war, blieben die Besatzer im Land. Der halbierte Hohenzollernstaat sank im Ergebnis des Tilsiter Friedens zu einer Mittelmacht herab, raffte sich aber zu ungewöhnlichen Neuerungen auf.

Viele gute Reformideen, die man schon vor 1807 diskutiert, aber nicht verwirklicht hatte, kamen unter dem Druck der Verhältnisse wieder auf den Tisch. Die Minister Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein und August Freiherr von Hardenberg, der Diplomat und Bildungspolitiker Wilhelm von Humboldt, der General Gerhard von Scharnhorst und andere Visionäre konnten den zögerlichen und ängstlichen Monarchen von der Notwendigkeit überzeugen, alte Zöpfe abzuschneiden, den friderizianischen Ständestaat von feudalen Fesseln zu befreien und ihn politisch, wirtschaftlich und kulturell fit für eine neue Zeit zu machen.

Nur noch freie Menschen
Am Anfang der preußischen Erneuerungsbestrebungen stand das so genannte Oktoberedikt. Am 9. Oktober 1807 in Memel verkündet und versehen mit dem Titel „Edikt, den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigenthums so wie die persönlichen Verhältnisse der Land-Bewohner betreffend“, drückte es die Sorge des königlichen Landesvaters um den „gesunkenen Wohlstand“ seiner Untertanen aus und kündigte an „alles zu entfernen, was den Einzelnen bisher hinderte, den Wohlstand zu erlangen, den er nach dem Maaß seiner Kräfte zu erreichen fähig war“. Wichtig waren die Paragraphen 11 und 12, nach denen „das bisherige Unterthänigkeits-Verhältniß derjenigen Unterthanen und ihrer Weiber und Kinder, welche ihre Bauergüter erblich oder eigenthümlich, oder Erbzinsweise, oder Erbpächtlich besitzen“ aufhören soll. Darüber hinaus wurde angeordnet, dass ab 1810 alle Guts-Untertänigkeit in Preußen beendet ist. „Nach dem Martini-Tage 1810 giebt es nur freie Leute, so wie solches auf den Domainen in allen Unsern Provinzen schon der Fall ist, bei denen aber, wie sich von selbst versteht, alle Verbindlichkeiten, die ihnen als freien Leuten vermöge des Besitzes eines Grundstücks, oder vermöge eines besonderen Vertrages obliegen, in Kraft bleiben.“ Beendet sein sollte laut Oktoberedikt also die elende „Erbuntertänigkeit“, die es den Gutsbesitzern erlaubte, über die von ihnen abhängigen, besitzlosen Leute zu schalten und zu walten, wie es ihnen beliebte, über Heiratswünsche zu befinden und ein Abwandern der Leibeigenen in die Stadt zu verbieten.

Der von Karl vom Stein nach vielen Diskussionen mit dem König formulierte Text hörte sich in der Theorie gut an, hatte in der Praxis aber viele Pferdefüße. Einer war, dass bessersituierte Bauern sofort frei kommen, während Mittellose erst später aus der Erbuntertänigkeit entlassen werden sollten. Das Oktoberedikt erlaubte adligen Gutsbesitzern, den Beruf zu wechseln und „bürgerlichen“ Tätigkeiten, etwa als Kaufleute oder Fabrikanten, nachzugehen. Umgekehrt konnten Personen aus dem Bürgertum Rittergüter kaufen und sich als Landwirte betätigen. Hier taten sich neue Konkurrenzverhältnisse auf, und der Ton in den Städten und Dörfern wurde schärfer.

Umsetzung des Oktoberedikts nicht ohne Widerstand
Vor allem die ängstlich um ihre Machtpositionen und wirtschaftliche Lage besorgten Gutsbesitzer schrieen Zeter und Mordio und versuchten, den königlichen Erlass geheim zu halten. Als das nicht möglich war, verlangten sie von ihren bisherigen Leibeigenen Entschädigungen für verloren gegangene Arbeitskraft und ließen sich von ihnen für viel Geld Grund und Boden abkaufen. Wer nicht zahlen konnte, und das waren die meisten von den Neuerungen begünstigen Personen, musste weiterhin für die Gutsherrschaft zu erbärmlichen Bedingungen schuften oder stürzte sich in hohen Schulden, an denen nachfolgende Generationen noch abzuzahlen hatten. Wenn gelegentlich Widerstand gegen auch nach der Verkündung des Oktoberedikts auf der bäuerlichen Bevölkerung lastende Unrecht aufflackerte, setzte der König Truppen ein, um örtliche Rebellionen mit Waffengewalt niederzuschlagen. Viele Bauern verließen ihre Scholle, zogen als Landarbeiter umher, verdingten sich in den Städten als Tagelöhner oder Handwerker oder wanderten aus.

Das Oktoberedikt und all die anderen Reformen, die dem preußischen Desaster von 1806/07 folgten, wurden nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit erlassen, sondern folgten vor allem ökonomischen und politischen Zwängen. In der um die Hälfte geschrumpften Monarchie waren die Haupteinnahmequellen des Staates aus den königlichen Domänen beziehungsweise aus Steuern und Akzisen in sich zusammengebrochen. Es mussten Mittel und Wege gefunden werden, die landwirtschaftliche Produktion zu steigern und den allgemeinen Wohlstand zu heben. Hungerrevolten und die Verlängerung des französischen Besatzungsregimes wollte auch Friedrich Wilhelm III. nicht dulden, weshalb er alles tat, um die Staatseinnahmen aufzubessern, selbst um den Preis von Veränderungen der Eigentums- und Besitzverhältnisse auf dem Lande.

Das agrarisch geprägte Preußen aus dem Tief herauszuholen und seinen Bestand zu sichern, war das Ziel der nach Stein und Hardenberg benannten Reformen, zu denen die Straffung der verknöcherten Verwaltung, die Mitwirkung eines kleinen, wohlhabenden Teils der Bevölkerung an der Gestaltung der kommunalen Dinge sowie eine Militärreform mit der Schaffung der allgemeinen Wehrpflicht und der Beseitigung menschenunwürdiger Militärstrafen gehörten. Doch auch die Hebung des allgemeinen Bildungs- und Kulturniveaus stand auf der Tagesordnung. Diesbezügliche Bestrebungen gingen von Wilhelm von Humboldt aus. Er konnte den König dazu bewegen, anstelle einiger durch den Frieden von Tilsit verloren gegangener Universitäten in Berlin eine neue Hohe Schule zu stiften. 2010 wird die Humboldt-Universität anlässlich ihren zweihundertjährigen Jubiläums an den steinigen Weg erinnern, der zu dieser Gründung führte.

Versprechen nicht eingehalten
Nach den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 stand das Reich der Hohenzollern mächtiger denn je dar und spielte im Konzert der europäischen Völker eine wichtige Rolle. Friedrich Wilhelm III. hatte im März 1813 zu einem heiligen Krieg gegen Napoleon und seine Truppen aufgerufen und fand bei seinen Untertanen ein begeistertes Echo. Wie groß war deren Enttäuschung, als er sich nach dem Sieg über Frankreich weigerte, die angekündigte Verfassung zu erlassen und dem „Volk“ einen Zipfel der Macht in die Hände zu geben. Statt dessen schloss sich Preußen mit Russland und Österreich zur Heiligen Allianz mit dem Ziel zusammen, Freiheitsbestrebungen in Preußen, Deutschland und Europa mit Waffengewalt zu unterdrücken und Oppositionelle in den Kerker zu werfen. Diese Politik brutaler Repression einschließlich der Unterdrückung der freien Presse und widerständigen Geistes stand im merkwürdigen Kontrast zum Aufblühen von Kunst und Kultur, Handwerk und Gewerbe.

Helmut Caspar

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