Auge um Auge, Zahn um Zahn -
Ausstellung im Berliner Pergamonmuseum
geht der Entstehung und dem Nachleben von Mythen
rund um das antike Babylon nach


Im Pergamonmuseum fand das vor einhundert Jahren ausgegrabene Ischtartor eine neue Heimat.


Furchterregend fletscht ein Steinlöwe, der einen Tempel bewacht, seine Zähne. (Fotos: Caspar)

Mythen haben die Angewohnheit, sehr langlebig zu sein. Von Generation zu Generation mit immer neuen Geschichten und märchenhaften Details ausgeschmückt, widerstehen sie rationeller Erkenntnis und – im Fall des vor 2500 Jahren untergegangenen Babylon – auch den Ergebnissen archäologischer Forschung. Die bis 5. Oktober 2008 laufende Ausstellung „Babylon – Mythos und Wahrheit“ im Pergamonmuseum auf der Museumsinsel dokumentiert, was das Reich der Babylonier war, nämlich Geburtsort der westlichen Zivilisation. Und sie zeigt, und was das babylonische Reich und seine Hauptstadt nicht war, nämlich der Inbegriff von Unmoral und Sklaverei, Selbstüberhebung, Sprachverwirrung und Hybris.

Die Ausstellung der Staatlichen Museen Preußischer Kulturbesitz, des Musée du Louvre in Paris und des British Museum in London richtet gleich eingangs den Blick auf Wurzeln unserer abendländischen Kultur. Zu sehen sind, in Stein gemeißelt, jene Götter, zu denen die zwischen Euphrat und Tigris lebenden Babylonier beteten. Ihnen gegenüber tritt die weltliche Macht. Einer von den Königen, Nebukadnezar II. (604-562 vor Christus), hat sich in einem Keilschrifttext am Ischtartor verewigt. Die blau und gelb gehaltenen Wände sind übersäht mit Löwen, Stieren und Greifen als Sinnbilder für Macht und Größe. Schaut man genau hin, dann erkennt man, dass die bunt glasierten Reliefs aus tausenden Einzelteilen bestehen. Vor hundert Jahren wurden diese und viele andere Relikte von dem deutschen Archäologen Robert Koldewey (1855-1925) und weiteren Archäologen entdeckt, ausgegraben und nach Berlin geschafft. Im Pergamonmuseum hat man unter Verwendung der sorgsam zusammengefügten Einzelteile eine neue Prozessionsstraße samt Eingangstor aufgebaut. Dieses Bauwerk ist „das“ Highlight im Vorderasiatischen Museum, welches im Pergamonmuseum, wenige Schritte vom Pergamonaltar entfernt, unzählige Besucher anlockt.

Die neue Ausstellung vereint erstmals in dieser umfassenden Form kostbare, in bedeutenden Museen der Welt aufbewahrte Hinterlassenschaften der Babylonier. Wer sich auf die Reise in die Vergangenheit, hinein in eines der Weltwunder der Antike, begibt, lernt eine faszinierende Zivilisation kennen, die wuchtige Bauten zu errichten imstande war, die sich in Keilschriften verständlich machte und die erste schriftlich fixierte Gesetzessammlung der Welt besaß. Darin legte der altbabylonische König Hamurapi (1810-1750 vor Christus) unter anderem den auch im Alten Testament formulierten Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ fest. Der König der Gerechtigkeit, wie man ihn nannte, begriff die Herstellung von Recht und Ordnung als göttlichen Auftrag, und so ist er auf einer Stele bei der Entgegennahme dieses Codex dargestellt, um ihm in seinem Land Anerkennung zu verschaffen. Das Bildwerk aus schwarzem Stein wurde 1902 bei Ausgrabungen in Susa gefunden. Das Original ist von unschätzbarer Aussagekraft für die Frühzeit der menschlichen Zivilisation. Man wollte der Stele die Reise nach Berlin nicht zumuten, deshalb ist sie in der Babylon-Ausstellung nur durch eine Kopie präsentiert. Gleich nebenan sind Korrespondenzen, Gerichtsurteile und Verträge, die alle aus Keilschrifttexten bestehen, ausgelegt. In den beiden zur Ausstellung publizierten Katalogbänden kann man nachlesen, was die Inschriften bedeuten.

Neben dem Rechtswesen erlangten Wissenschaft und Baukunst unter den Babyloniern eine hohe Blüte. Wir verdanken diesem innovativen Volk Kalender, Uhren und Schrift, aber auch medizinische Heilmethoden und eine aus der Beobachtung der Sterne resultierende Weltsicht. Auch in der Baukunst, bei der Errichtung von Palästen und Tempeln, Stadtmauern und Stadttoren waren die Leute im Zweistromland Meister. Ihnen stand billiger Baustoff in Form von Lehm zur Verfügung. Aus den Ziegeln wurden die ersten Städte für zehntausende Bewohner erbaut. Als Babylon, die Hauptstadt des Alt- und Neubabylonischen Reiches, 539 vor Christus von den Persern und dann noch einmal 331 vor Christus von Alexander dem Großen erobert wurde, begann ihr Niedergang. Zum Glück bedeckte Sand die Ruinen, die bis zur Entdeckung und Ausgrabung konserviert wurden. Robert Koldewey und weitere Ausgräber mussten große Mengen davon beseitigen, um das verschüttete Babylon, seine Paläste, Straßen und Tore wieder auferstehen zu lassen.

Die klassische Antike übernahm die technologischen Errungenschaften der Babylonier, arabisch-islamische Völker nutzten ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse. Man hatte allen Grund, den Bewohnern des Riesenreiches am Euphrat und Tigris dankbar zu sein. Doch weit gefehlt. Babylon wurde zum Inbegriff alles Schlechten in der Welt. Wie es dazu kam, wird im zweiten Teil der Ausstellung dokumentiert. Sie führt in die Zeit der jüdischen Gefangenschaft, von der im Alten Testament die Rede ist. Entgegen den Aussagen dort erlitten die Juden im Babylonischen Exil keineswegs ein leidvolles Martyrium, ist zu erfahren, sondern wohlwollende Behandlung, die ihnen die Entfaltung ihrer religiösen Identität gestattete. Gegen die geschichtliche Wahrheit hält sich bis heute der Mythos, dass die Israeliten unter den Babyloniern geknechtet wurden und furchtbar gelitten haben.

Zahlreiche Künstler haben seit dem Mittelalter an dem Legendenstoff gewebt und Schreckensszenarien einschließlich der Apokalypse wort- und bildreich ausgemalt, ohne die Fakten zu kennen. Dem sprichwörtlichen Sündenbabel wurde ein Gottesstaat, das himmlische Jerusalem, gegenüber gestellt. Martin Luther verglich Rom, das Zentrum der katholischen Welt und Sitz des Papstes, mit der babylonischen Hure. Für ihn war das Babylonische Reich der Sitz einer gottesfeindlichen Macht und das Zentrum von Sünde und Dekadenz. Diese Vorstellung hat sich bis heute gehalten. Außerhalb der Altertumswissenschaft, die die Fakten kennt, gilt Babylon als Sünde und Teufelei schlechthin. Kein Wunder, dass dieses Urteil in unserer Zeit populär ist. So wird im letzten Abschnitt der Ausstellung anhand von schwülstigen Spielfilmen, aber auch durch ausgelegte Romane und so genannte Aufklärungsbücher an der Legende weiter gewerkelt.

Bleibt noch der Turm zu Babel. Ihn hat es tatsächlich gegeben, doch im Unterschied zu allen märchenhaften Schilderungen war er nicht von kegelförmiger Gestalt, sondern hatte einen viereckigen Grundriss. Als 1889 in Paris der Eiffelturm zur Hundertjahrfeier der französischen Revolution errichtet wurde, verteufelten Gegner die damals futuristische Eisenkonstruktion als neuen Turm von Babel, und als in New York Wolkenkratzer aus dem Boden schossen, erhielt die amerikanische Metropole den Spitznamen New Babylon.

Indem die Ausstellung mit Legenden und Mythen rund um das antike Babylon aufräumt, setzt sie dem Ausgräber und Wiedererwecker eines der sieben Weltwunder der Antike Robert Koldewey ein schönes Denkmal. Neben den beiden Katalogbänden mit zusammen 928 Seiten (Preis der Museumsausgabe zusammen 49,80 Euro, Hirmer-Verlag, München) erschien im Verlag Philipp von Zabern, Mainz, der Band „Auf dem Weg nach Babylon. Robert Koldewey – ein Archäologenleben“ (192 S., 19,80 Euro). Die Ausstellung ist Sonntag bis Mittwoch von 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis Samstag von 9 bis 22 Uhr geöffnet, Eintrittspreis Pergamonmuseum 12, ermäßigt 6 Euro; für Besucher bis 16 Jahre ist der Eintritt frei.

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