Vor 75 Jahren riefen die Nationalsozialisten „Deutsche,
wehrt euch, kauft nicht bei Juden“
und gaben mit einem Boykott den Auftakt
für Ausgrenzung und Mord


Mit solchen Anschlägen versuchte man Besucher und Kunden jüdischer Einrichtungen und Geschäfte Angst einzujagen.


SA-Leute verschandelten am 1. April 1933 jüdische Geschäfte mit antisemitischen Parolen. (Repros: Caspar)

Kaum waren vor 75 Jahren die Nationalsozialisten an der Macht, starteten sie eine massive Hetzkampagne gegen Kommunisten, Juden und andere Menschen, malten das Gespenst einer jüdisch-bolschewistischen Revolution an die Wand, die nur durch die „Machtergreifung“ Hitlers verhindert wurde. Viele Deutsche glaubten diesem Märchen und beteiligten sich an der Jagd auf alle diejenigen, die nicht ins „völkische“ Menschenbild der Herren in den braunen Hemden passten. Endlich konnte man Kollegen, Vorgesetzten, Konkurrenten mit der Behauptung eins auswischen, sie seien politisch und „rassisch“ nicht einwandfrei, und deren Positionen einnehmen.

Neid und Missgunst waren wichtige Triebfedern für die nach dem 30. Januar 1933 anschwellenden Übergriffe im ganzen Reich auf jüdische Mitbürger. Da die demokratischen Rechte und Prinzipien der Weimarer Verfassung durch das am 23. März 1933 erlassene so genannte Ermächtigungsgesetz beseitigt waren, waren Beschwerden zwecklos. Nachdenkliche Stimmen und Warnungen aus dem Ausland wurden von den gleichgeschalteten Medien als Hetze gegen den neuen Staat, gegen das deutsche Volk verunglimpft.

Von langer Hand vorbereitet, fand am 1. April 1933 eine Aktion unter dem Motto „Deutsche, wehrt euch, kauft nicht bei Juden“ statt. Das Datum war mit Bedacht worden, denn er war der Geburtstag des ersten deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, der zugleich Nazi-Gauleuter von Berlin war, wählte dieses Motto, um den Gegensatz, ja die Unvereinbarkeit von Deutschen und Juden zu unterstreichen. Er ordnete in Übereinstimmung mit Hitler und der von ihm geführten Regierung an, dass jüdische Warenhäuser, Läden und Waren sowie jüdische Ärzte und Rechtsanwälte boykottiert werden. Überfallartig erschienen SA-Leute und versperrten die Zugänge zu den Betroffenen, klebten Hetzplakate mit jener Parole an Wände und Scheiben, malten Davidsterne auf Fenster, Türen und Namensschilder, jagten Besuchern und Kunden Schrecken ein, warnten davor, dass man sie fotografiert und anzeigt. Wer sich beschwerte oder zur Wehr setzte, erhielt zur Antwort „Juda verrecke“, wurde verprügelt, in die Folterkeller der SA verschleppt oder kam in Sammelstellen, aus denen sich bald die Konzentrationslager entwickelten.

In der von Goebbels gleichgeschalteten Presse wurde der so genannte Judenboykott unisono als gerecht, längst fällig und notwendig begrüßt. Endlich werde dem Ausland gezeigt, wer das Sagen im Reich hat, niemand sei berechtigt, seinem Führer Adolf Hitler Vorschriften zu machen. Der „Völkische Beobachter“, das Zentralorgan der Nazipartei, beschrieb den antisemitischen Terror als Generalprobe für weitere Maßnahmen dieser Art und lobte, dass die Aktion an jenem 1. April pünktlich um 10 Uhr begann, diszipliniert verlief und am Abend pünktlich beendet wurde.

In seinem Tagebuch wurde Joseph Goebbels deutlicher. Der Boykottaufruf sei am 28. März 1933 veröffentlicht worden und habe „Panik unter den Juden“ bewirkt. „Der Boykott ist in der Organisation fertig. Wir brauchen jetzt nur auf den Knopf zu drücken, dann läuft er an“. Und am 1. April 1933 notierte Goebbels: „Der Boykott gegen die Weltgreuelhetze ist in Berlin und im ganzen Reich entbrannt“, er sei ein großer moralischer Sieg für Deutschland. Zusammenfassend notierte Goebbels, der, wie Erich Kästner ihn charakterisierte, abgefeimte Lügner: „Wir haben dem Ausland gezeigt, daß wir die ganze Nation aufrufen können, ohne daß es dabei im mindesten zu turbulenten Ausschreitungen kommt. Der Führer hat wieder das Richtige getroffen“. Den Juden im Reich riet Hitlers Propagandachef, „Deutschland endgültig aufzugeben“, also das Land zu verlassen. Das haben einige auch getan, viele aber blieben in der Hoffnung, die Lage werde sich beruhigen.

Ursprünglich war für die angeblich spontanen Maßnahmen ein längerer Zeitraum vorgesehen, doch da das Ausland mit Entsetzen reagierte, beließen es die Nazis bei einer einmaligen, von Massenkundgebungen begleiteten Aktion, hielten ihre antijüdischen Drohungen aber weiter aufrecht. In der Folgezeit gingen sie weniger geräuschvoll, aber nicht minder effektiv gegen die zu Reichsfeinden erklärte jüdische Bevölkerung sowie gegen die politische Opposition und andere Personen vor. Was am 1. April 1933 geschah, war der offizielle Auftakt für Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Reich. Sie führte über die massenhafte Entlassung jüdischer Beamter und Angestellter aus dem öffentlichen Dienst und die Nürnberger Rassegesetze von 1935 sowie zahllose Verordnungen zur weiteren Ausgrenzung aus dem öffentlichen Leben und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit direkt in den Holocaust, dem über sechs Millionen Juden in Deutschland und den von der deutschen Wehrmacht besetzten europäischen Ländern zum Opfer fielen.

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