„Einholen und überholen“ -
Vor 50 Jahren wurden in der DDR die Lebensmittelkarten abgeschafft, doch steigerte sich die Unzufriedenheit weiter



Was die Werbung in der DDR versprach, war nur schöner Schein. Um ihr Gewicht zu geben, droschen die ostdeutschen Werbestrategen gern auf den „Klassengegner“ ein. (Repro: Caspar)

In unserer heutigen Überflussgesellschaft sind Zeiten kaum vorstellbar, in denen Butter und Zucker, Fleisch, Fett, Öl und andere Lebensmittel rationiert waren. Man konnte nicht nach Belieben einkaufen, sondern hatte im Monat nur eine bestimmte Menge zur Verfügung, und wenn man mehr benötigte, dann musste man auf dem „Schwarzen Markt“ oder in teuren Läden dazu kaufen. Gut waren diejenigen dran, die eine eigene Landwirtschaft oder einen Garten besaßen und sich daraus versorgen konnten. Ältere Leser werden sich noch an Lebensmittelkarten und Bezugscheine erinnern, die man in der frühen DDR beim Einkauf von Grundnahrungsmitteln, aber auch von Textilien und Schuhen vorlegen musste. Das System war keine Erfindung der Nachkriegszeit, sondern hatte es schon während des Zweiten Weltkriegs gegeben.

Mitte der 1950-er Jahre wurden in der DDR die Lebensmittelkarten zur Last, und als sie endlich am 28. Mai 1958 abgeschafft wurden, war das für die Parteipresse ein willkommener Grund, die Vorzüge, ja die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus zu preisen und das Bild eines gut versorgten Landes mit zufriedenen Bewohnern an die Wand zu malen. Doch wenn man die mit Zitaten von Marx, Engels und anderen „Klassikern“ untermalten Werbesprüche mit der Wirklichkeit verglich, merkte man sehr schnell, dass es sich nur um hohle Phrasen ohne realen Hintergrund handelte. Denn die Industrie und die Landwirtschaft der DDR konnten vor 50 Jahren produzieren wie sie wollten, es langte vorne und hinten nicht, und außerdem reichten die Löhne in der Regel gerade, um sich das Nötigste zu kaufen. Manch einer mag auch nach der Abschaffung der Lebensmittelkarten weiter „Kohldampf“ geschoben haben. Und wer etwas Geld gespart hatte, bekam nicht das zu kaufen, was er haben wollte.

Die 1958 abgeschafften Lebensmittelkarten bestanden aus Kupons, die beim Einkauf vom Händler abgeschnitten wurden. Jedem DDR-Bürger stand eine bestimmte Menge an Fleisch, Fett, Zucker und ähnlichen Waren zu. Wenn Familienfeiern wie Geburtstage und Hochzeiten, aber auch die Ostertage und das Weihnachtsfest bevorstanden, wurden die Abschnitte gehortet und dann auf einmal eingelöst. Endlich konnte die Familie einmal richtig schmausen.

Auch nach dem Verzicht auf Lebensmittelkarten hatten viele Leute nicht das Geld, um sich zusätzlich aus den Läden der staatlichen Handelsorganisation, besser bekannt als HO, oder aus dem Konsum zu versorgen. Fleisch und Butter gab es bei vielen DDR-Bewohnern selten, man behalf sich mit selbst angebautem Gemüse und mit Margarine und kam damit irgendwie über die Runden. Übergewichtige waren damals kaum im Straßenbild zu sehen, Stoffwechselkrankheiten, die uns heute plagen, waren die Ausnahme. Glück hatte, wen Verwandte mit „Westpaketen“ versorgten. Deren Inhalt wurde nicht nur zum eigenen Verzehr verwendet, sondern diente vielfach dem Tauschhandel und zur Pflege von „Beziehungen“, denn die waren im zweiten deutschen Staat so wertvoll wie Gold. Mit denen konnte man sich manchen Traum erfüllen und sich eine Schrankwand oder sogar ein Auto unter Umgehung langer Anmeldezeiten zulegen.

Natürlich musste die DDR-Regierung dem Preisschub nach oben, der 1958 mit der Abschaffung der Lebensmittelkarten einherging, entgegenwirken. Da die neuen Preise höher waren als diejenigen, die man bei Abgabe der Kupons bezahlen musste, wurde die Differenz durch vorsichtigen Anstieg der Löhne, Gehälter und Renten ausgeglichen. Außerdem wurde eine Reihe von finanziellen Vergünstigungen für Familien mit Kindern eingeführt. Diese Neuerungen und ein verbessertes, aber weiterhin nicht ausreichendes Angebot an subventionierten Lebensmitteln sowie von billigen Wohnungen führten vorübergehend zu einer Entspannung des politischen Klimas in der DDR. Diese Art Tauwetter dauerte allerdings nicht lange, sondern schlug um in neue Unzufriedenheit und kritische Fragen an die sozialistische Planwirtschaft.

Hatten die DDR-Bewohner bis dahin ihren Lebensstandard an dem gemessen, was ihnen vor dem Krieg zur Verfügung stand, so war es jetzt die offiziell als „Klassenfeind“ bekämpfte Bundesrepublik der Maßstab, und dem gegenüber war die DDR stark im Hintertreffen, mochten die dortigen Medien noch so sehr das Gegenteil behaupten.

Dass es in den späten fünfziger Jahren weiter zu wirtschaftlichen „Engpässen“ kam, wie man die massiven Versorgungslücken vorsichtig umschrieb, hatte nicht zuletzt mit den immensen Lieferverpflichtungen der DDR an den „großen Bruder“ zu tun. Bis zu seinem Ende musste der zweite deutsche Staat einen großen Teil seiner Industrieproduktion in die Sowjetunion zu Dumpingpreisen exportieren und bekam dafür Erdöl, Getreide und andere hierzulande weiter zu verarbeitende Rohstoffe. Nachdem die DDR-Regierung vor einem halben Jahrhundert der Führung in Moskau die Gefahr einer schweren Ernährungskrise und von möglichen inneren Unruhen analog zu denen in Polen und Ungarn eingestanden hatte, wurden die Lieferungen aus der Sowjetunion verstärkt. Begleitet wurden die Lieferungen, die erst die Abschaffung der Lebensmittelkarten ermöglichten, durch eine massive ideologische Beeinflussung der Bevölkerung. Die SED gab die Parole „Sozialistisch arbeiten, lernen und leben“ aus und erklärte als Staatsziel, „Westdeutschland“ im Pro-Kopf-Verbrauch einzuholen und zu überholen, was ganz und gar unrealistisch war und bis zum Ende der DDR nicht erreicht wurde.

Ende der 1950-er Jahre trieben SED-Chef Walter Ulbricht und seine Genossen nach sowjetischem Vorbild die Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die Verstaatlichung privater Klein- und Mittelbetriebe massiv voran und lösten mit weiteren, auch gegen die Kirche gerichteten Maßnahmen eine Massenflucht in den Westen aus. Das Fehlen von Bauern, Handwerkern, Gewerbetreibenden, Lehrern und Ärzten machte sich überall und vor allem in der Versorgung bemerkbar, mochte die Propaganda mit ihrer massiven Hetze gegen die Bundesrepublik und ihre angeblichen Abwerbemaßnahmen noch so sehr dagegen halten. Die „staatlichen Organe“, allen voran das Ministerium für Staatssicherheit, hatten jede Menge zu tun, das selbst verschuldete Ausbluten der DDR zu verhindern. Ulbricht & Co. schoben der Massenflucht am 13. August 1961 in Abstimmung mit der Sowjetregierung durch den Bau der Berliner Mauer und die Zementierung der innerdeutschen Grenze einen Riegel vor. Nachdem sich die DDR selber zubetoniert hatte, rief ihre Führung zum Wettstreit mit der kapitalistischen Bundesrepublik auf. Das Ziel, die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus durch massives Wirtschaftswachstum und Nutzung aller Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik zu beweisen und dadurch die „sozialistische Menschengemeinschaft“ zusammenzuschmieden, erwies sich als Utopie. Übrig blieb ein Schuldenberg, dessen Höhe erst nach dem Untergang des zweiten deutschen Staates zu allgemeinem Entsetzen bekannt wurde.

Zurück zur Themenübersicht
"Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"