Tote erhielten Namen und Gesichter –
Forscher rekonstruierten Schicksale von Flüchtlingen an der Berliner Mauer



Vor 20 Jahren war an der Bernauer Straße kein Durchkommen. Blick vom Aussichtsturm des Dokumentationszentrums auf die 1999 eingeweihte Gedenkstätte.



Eine Bilderwand an der Gedenkstätte Bernauer Straße informiert über den Verlauf der Grenzanlage, der zahlreiche Häuser und die Versöhnungskirche geopfert wurden. (Fotos: Caspar)

Zahlreiche Todesfälle an der Berliner Mauer sind in den vergangenen Jahren bekannt geworden. Das neue biografische Handbuch „Die Todesopfer an der Berliner Mauer“ beschreibt Schicksale von Menschen, die ihre Flucht mit dem Leben bezahlen mussten.

Die Dokumentation ist das Ergebnis eines gemeinsamen Forschungsprojekts der Stiftung Berliner Mauer und des Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Sie geht der Frage nach, wer die 136 namentlich bekannten Männer, Frauen und Kinder waren, die zwischen dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 und März 1989 an der Berliner Mauer und den Befestigungsanlagen rund um Westberlin ums Leben kamen.Sie nennt deren Fluchtgründe und schildert, wie die DDR-Behörden mit den Familienangehörigen und Freunden der Toten umgingen und Legenden über Schüsse am so genannten antifaschistischen Schutzwall in die Welt setzten. Die von Hans-Hermann Hertle, Maria Nooke und weiteren Historikern verfasste Dokumentation erinnert darüber hinaus an Unbekannte, bei denen nicht klar ist, wie sie ums Leben kamen, denn die DDR-Behörden taten alles, um die Wahrheit über das Ausmaß der „Fluchtbewegung“ an der so genannten Staatsgrenze West zu verschleiern und anderen die Schuld an Schüssen und tödlichen Unfällen in die Schuhe zu schieben. Vielfach erfuhren Angehörige erst nach dem Ende der DDR Einzelheiten darüber, dass Familienmitglieder an der Grenze erschossen worden waren oder ertrunken sind. Häufig haben bei einem Fluchtversuch ertappte DDR-Bewohner ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt, und auch diese Gruppe würdig das Buch. Das gilt ebenso für DDR-Grenzer, die bei Fluchtversuchen ums Leben kamen. Die Tatsache, dass es Fahnenfluchten gab, wurde in der DDR als besonderes Staatsgeheimnis gehütet; manche Flüchtlinge wurden aus politischen Gründen zu Helden stilisiert und mit einem Staatsbegräbnis geehrt. Den Behörden war nicht daran gelegen, dass die Wahrheit über ihren Tod jemals ans Tageslicht kommt. Nicht zuletzt befasst sich das Buch mit der Frage, wie die Öffentlichkeit in Ost und West auf die Todesschüsse reagierte, was nach 1989/90 aus den Todesschützen und ihren Auftraggebern wurde und wie man seither der Todesopfer gedenkt.

Die Autoren haben in den Archiven alle Verfahrensakten und die Stasi-Unterlagen systematisch ausgewertet und ergänzen diese Dokumente durch Interviews mit Angehörigen und Zeitzeugen. Hans-Hermann Hertle bedankte sich bei der Buchvorstellung im Dokumentationszentrum Berliner Mauer an der Bernauer Straße bei den Gesprächspartnern, weil sie mitgeholfen haben, den getöteten Flüchtlingen Gesicht, Stimme und Würde zu geben. Weitere Forschungen seien nötig, um die Vorgänge an der innerdeutschen Grenze aufzuklären und an die dort bei Fluchtversuchen getöteten Menschen zu erinnern.

Gefördert von Bernd Neumann, dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, erschien das 528 Seiten starke und mit zahlreichen Fotos ausgestattete Handbuch im Chr. Links Verlag Berlin (24,90 Euro, ISBN 978-3-86153-517-1). Bei der Buchvorstellung betonte Neumann den Willen der Bundesregierung sowie der Opferverbände, sich mit Versuchen, das SED-Regime zu verharmlosen, nicht abzufinden, sondern diesen Namen, Daten und Fakten entgegen zu setzen. Es gehe um mehr als bloße Zahlen. Es gehe darum zu zeigen, welcher Mechanismen sich die DDR bediente, um ihre Einwohner im Lande zu halten. Erst durch die Personalisierung jeder einzelnen Tat, durch die Verknüpfung der 136 Namen mit einer Biographie, zeige das Unrecht seine wahre Dimension und werde für die junge Generation, welche die Teilung und deren Folgen nur aus Erzählungen kennt, fassbar. Eine verstärkte Vertiefung des Themas an den Schulen sei unverzichtbar, „um der Verharmlosung und Relativierung des Unrechtsstaates entgegenzuwirken. Gerade im Hinblick auf die zunehmende Verklärung und Bagatellisierung der politischen Verhältnisse in der DDR ist es von hoher Bedeutung, die menschenverachtenden Verhältnisse dort konsequent aufzuzeigen und aufzuarbeiten. Dazu leisten die jetzt vorgelegten Forschungsergebnisse einen wichtigen Beitrag“.

Besucher des Dokumentationszentrums an der Bernauer Straße können die Informationen über die Toten an der Berliner Mauer und weitere Fragen über ein neues interaktives Terminal abrufen. Außerdem haben sie dort Gelegenheit, Text-, Ton-, Film- und Bilddokumente zur Geschichte der Berliner Mauer und speziell der Bernauer Straße zu recherchieren. Das Dokumentationszentrum an der Bernauer Straße ist täglich von 9.30 bis 19 Uhr bei freiem Eintritt geöffnet, weitere Informationen unter www.berliner-mauer-gedenkstaette.de.

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