Verbrechen in der Landes-Pflege-Anstalt –
Nazis ermordeten in Brandenburg an der Havel über 9000 Kranke und Behinderte



„Wohin bringt ihr uns?“ lautet die Inschrift am Denkmal der grauen Busse in Brandenburg an der Havel. Foto: Caspar

Mitten in der Stadt Brandenburg an der Havel wurden zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im Rahmen der so genannten Euthanasie über 9000 kranke, behinderte und schutzbedürftige Menschen ermordet. Das Wort Euthanasie kommt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt „schöner oder leichter Tod“. Ort des Verbrechens war die „Landes-Pflegeanstalt Brandenburg a. H.“ in einem ehemaligen Zuchthaus am Nikolaiplatz, nicht weit vom Marienberg entfernt. 1940 brachten Ärzte innerhalb weniger Monate an dieser Stelle unter dem Decknamen „T 4“ als lebensunwert oder als „Ballastexistenzen“ diffamierte Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer um. „T 4“ war die Codebezeichnung für das Planungszentrum in der Berliner Tiergartenstraße 4, unweit der heutigen Philharmonie im Bezirk Tiergarten. Dort erinnert ein Denkmal an die Ermordeten und die Mörder. Das 2008 eingeweihte Monument aus grau gestrichenem Beton hat die Form eines jener Busse, mit denen die dem Tod geweihten Menschen in die Mordstätten transportiert wurden. Ein weiteres „Denkmal der grauen Busse“ steht auf dem Brandenburger Nikolaiplatz. Die Inschrift zitiert die von Patienten an das Pflegepersonal gestellte Frage „Wohin bringt ihr uns?“ Eine Tafel vor dem ebenso eindrucksvollen wie schlichten Erinnerungsort dokumentiert die Ziele der nationalsozialistischen Euthanasie, der während des Zweiten Weltkriegs etwa 200 000 Kranke und Behinderte zum Opfer fielen. Bis 1941 wurden in Bernburg, Brandenburg an der Havel, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Sonnenstein 70 273 Menschen vergast. Der organisierte Massenmord in den Gaskammern, die in der von der Außenwelt abgeschotteten Brandenburger Anstalt eingerichtet wurden und in den anderen Einrichtungen standen, fand seine Fortsetzung in den Vernichtungslagern von Auschwitz-Birkenau, Belzec, Chelmno, Majdanek, Sobibor und Treblinka. Nur in seltenen Fällen wurden die Mörder und ihre Auftraggeber zur Rechenschaft gezogen.

Bereits 1947 hatte die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) nach Brandenburg zu einer Gedenkveranstaltung für diejenigen eingeladen, die als so genannte Erbkranke oder Unheilbare getötet wurden. Um die Erinnerung an die Gräuel wachzuhalten, wurde am 8. September 1962 am Ort des Verbrechens, dem heutigen Brandenburger Rathaus, eine von Andreas Franz Threyne geschaffene bronzene Gedenktafel enthüllt. Das Relief an einer Ziegelmauer zeigt einen Mann, der zusammenzuckend einen qualvollen Gifttod stirbt. „Vergesst es nie! Durch die Euthanasiemorde der Faschisten wurden 1940 auf diesem Gelände 8 000 unschuldige Menschen getötet“, fordert die Inschrift.

In den achtziger Jahren begann in Brandenburg eine erste Spurensuche über dieses besonders schreckliche Kaptitel nationalsozialistischer „Gesundheitspolitik“ und die Schicksale der Opfer, deren Zahl nicht genau bekannt ist, weil brisante Dokumente vernichtet wurden. Die Trauer um die Opfer wurde mit der Aufarbeitung von Ursachen und Mechanismen der von der Nazi-Propaganda als volkswirtschaftlich notwendig und wegen der „Reinhaltung“ des deutschen Blutes gerechtfertigten Massentötung von psychisch kranken und geistig behinderten Menschen verbunden. Eingeschlossen in das Gedenken waren die von speziellen Gerichten verfügten Massensterilisationen und die schrecklichen Experimente, die Ärzte an den ihnen anvertrauten Menschen vornahmen.

Ende der achtziger Jahre entstand auf Initiative eines Brandenburger Arztes die Ausstellung „Vergessenes Grauen“, die sich dem Geschehen in der ehemaligen Brandenburger Tötungsanstalt widmete und es stärker ins öffentliche Blickfeld holte. In den neunziger Jahren mahnten die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V., der Zentralrat der Juden in Deutschland sowie engagierte Bürger, den Tatort im Herzen der Stadt kenntlich zu machen, um der Opfer eindringlicher gedenken zu können, aber auch Versuchen entgegenzutreten, die Verbrechen des Naziregimes zu beschönigen, wenn nicht gar zu leugnen. Mit Mitteln des Landes und der Stadt Brandenburg entstand am Nikolaiplatz auf einer Freifläche, auf der das frühere Zuchthaus stand, ein Gedenk- und Lernort. Auf Schrift- und Bildtafeln, die an braun korrodierten Stahlstelen befestigt sind, berichtet die Ausstellung über die Geschichte der vor über 200 Jahren als Landesarmenhaus und Zuchthaus eingerichteten Anlage, die 1933 von den Nationalsozialisten kurzzeitig in ein Konzentrationslager umfunktioniert wurde.

Nach der Auflösung des Konzentrationslagers 1934 wurden die Gebäude eine Zeitlang als Gefängnis und Polizeikaserne genutzt, fiel aber 1939 an die Stadt Brandenburg, die hier einen umfangreichen Behördenkomplex mit Rathaus, Finanzamt und anderen Dienststellen einrichten wollte. Dies unterblieb, denn die Bauten geriet ins Visier der Kanzlei des „Führers“ Adolf Hitler, die in der nunmehrigen „Landes-Pflege-Anstalt Brandenburg a. H.“ die Euthanasie-Morde vornehmen ließ. Bereits im Januar 1940 wurde in dem Gebäude die Tötung von Menschen durch Kohlenmonoxid erprobt, bis Oktober 1940 hat man über 9000 psychisch Kranke und geistig Behinderte, die mit jenen unauffälligen grauen Bussen aus Nord- und Mitteldeutschland herbei geschafft worden waren, umgebracht, darunter jüdische Patienten und Kinder. Ort ihrer letzten Qualen war eine als Dusche getarnte Gaskammer, die man offiziell als Inhalationsraum bezeichnete und mit gekachelten Wänden und Duschattrappen ausstattete. Über dem Fußboden der Gaskammer war ein mehrfach durchbohrtes Rohr verlegt. Die Flaschen mit dem Giftgas standen im Nebenraum, deren Ventile wurden in der Regel von Ärzten bedient.

Als Gerüchte über die „Euthanasieaktion“ in der Bevölkerung umliefen und Beunruhigung auslösten, wurden am 24. August 1941 zumindest in Brandenburg an der Havel die Vergasungen beendet, liefen aber an anderen Orten weiter. Man ließ die Opfer entweder verhungern oder tötete sie durch falsch verabreichte Medikamente. Die Nazipropaganda bemühte sich, die Beseitigung „lebensunwerten Lebens“ als der Volksgesundheit dienlich und wegen der gesparten Pflegekosten als wirtschaftlich notwendig zu rechtfertigen. Ab 1943 wurde der Patientenmord unter der Bezeichnung „Aktion Brandt“, benannt nach Hitlers Bevollmächtigtem für das Sanitäts- und Gesundheitswesen Karl Brandt, mit dem Ziel der Beschaffung von Bettenplätzen in Krankenhäusern und Lazaretten fortgeführt, ergänzt mit der Aktion „14f13“, in der kranke oder nicht mehr arbeitsfähige KZ-Häftlinge umgebracht wurden. Die Dokumentation am Brandenburger Nikolaiplatz ist, da sie unter freiem Himmel stattfindet, 24 geöffnet. Sie schildert in einer sehr eindringlichen Weise Schicksale der „Lebensunwerten“, nennt aber auch die Täter am Schreibtisch und am Gashahn, denen nach dem Ende des Hitlerstaates vielfach nichts geschah, und zeigt darüber hinaus, dass es in der Hölle der Tötungsanstalt durchaus Formen des Widerstandes gab und sich manche Ärzte und Pfleger den Anweisungen zum Patientenmord widersetzten.

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