Erst freche Sprüche, dann tiefer Fall -
Mit dem Satz "Man sollte ihnen keine Träne nachweinen" brachte Erich Honecker seine Untertanen richtig auf die Palme



Solange Honecker an der Macht war, hat man ihn mit Huldigungen und Geschenken überhäuft. Hier ein im Deutschen Historischen Museum Berlin ausgestellter Porzellanteller mit seinem Bildnis. (Foto: Caspar)

Die DDR-Führung tauschte zwar Bruderküsse mit dem mächtigsten Mann der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, aus, aber was der Generalsekretär des ZK der KPdSU und Staatspräsident unter im Zeichen von Glasnost und Perestroika anstrebte, war Honecker & Co. zutiefst zuwider. Beide Begriffe auf Durchsichtigkeit und Veränderung zielende Begriffe gehörten zu den Unwörtern in der DDR, wenigstens in den offiziellen Medien, wurden aber umso häufiger von der Opposition als Argumentationshilfe und Vision verwendet. Erich Honecker leistete sich einen schlimmen Lapsus, als er Anfang Oktober 1989 in einen ADN-Kommentar des NEUEN DEUTSCHLAND gegen die Fluchtbewegung über Polen, die ČSSR und Ungarn mit Blick auf die Flüchtlinge nach dem Satz „Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft verabschiedet“ persönlich hinein schrieb: „Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen“.

Auf diesen höhnischen und die Realitäten auf den Kopf stellenden Satz muss der SED- und Staatschef so stolz gewesen sein, dass er ihn in seinem Sprachrohr, der Aktuellen Kamera, verlesen ließ, was die DDR-Bürger zusätzlich auf die Palme brachte. Wie Günter Schabowski, der langjährige ND-Chefredakteur beziehungsweise 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Berlin, 1991 in seinem Buch „Der Absturz“ bemerkte, habe der Kommentar nicht nur bei vielen Angehörigen der Flüchtlinge Empörung ausgelöst. Realitätsferne und Zynismus, die aus den Worten sprachen, hätten den Parteisekretären in den Betrieben und vielen SED-Mitgliedern schwer zu schaffen gemacht. Nach Honeckers Sturz wurde von der Parteiführung versucht, den Schaden zu beheben, indem offiziell versichert wurde, jeder Flüchtling sei einer zu viel und es würden alle gebraucht, um die krisenhafte Situation in den Griff zu bekommen.

Wenige Tage später, am 18. Oktober 1989, wurde Honecker im Zuge einer von einigen wenigen Politbüromitgliedern um Günter Schabowski angezettelten Palastrevolution angeblich aus Gesundheitsgründen abgesetzt, nicht ohne grünes Licht dafür bei Gorbatschow in Moskau einzuholen. Dem bisherigen Partei- und Staatschef, der mit seinen Kumpanen aus dem innersten Zirkel des Politbüros durch seine Halsstarrigkeit und Unbeweglichkeit die Krise erst heraufbeschworen hatte, blieb die Spucke weg. Parteisoldat, wie er war, stimmte er der eigenen Entthronung zu. In einer von ihm mit brüchiger Stimme verlesenen Erklärung schlug er Egon Krenz zu seinem Nachfolger vor. „Sang und klanglos war die Ära Honecker zu Ende gegangen. Verbohrter menschlicher Ewigkeitswahn hatte sich jäh begrenzbar erwiesen“, beschrieb Schabowski die neue Lage.

Der gesundheitlich angeschlagene Honecker, der zu Beginn 1989 prophezeit hatte, die Mauer werde noch fünfzig oder hundert Jahre stehen, womit er eine Fluchtwelle ohnegleichen auslöste, hat sich von dem von seinen eigenen Genossen verantworteten tiefen Fall nicht mehr erholt. In Rente geschickt, wies er gegenüber seinem Nachfolger Egon Krenz alle Anschuldigungen hinsichtlich von Machtmissbrauch und Misswirtschaft zurück. Während das SED-Regime alle Gegner erbarmungslos verfolgte, wurden seinem höchsten Repräsentanten die Vorzüge eines Rechtsstaats und christliche Nächstenliebe zuteil, als er und seine Frau, die ehemalige Volksbildungsministerin Margot Honecker, nördlich von Berlin in einem Pfarrhaus Asyl erhielten. Anfang Dezember 1989 wurde Erich Honecker aus der SED ausgeschlossen. Gegen ihn wurde ein Ermittlungsverfahren unter anderem wegen Machtmissbrauchs und Korruption eingeleitet; dazu kam ein Verfahren wegen Anstiftung zum Totschlag aufgrund der Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze. 1991 flüchtete Honecker in die Sowjetunion, um sich dem Prozess zu entziehen. Nach der Auflösung des Sowjetimperiums suchte er 1992 in der chilenischen Botschaft in Moskau Asyl, wurde aber an die Bundesrepublik ausgeliefert. Der Haftbefehl gegen ihn wurde am 13. Januar 1993 wegen Verhandlungsunfähigkeit aufgehoben. Noch am gleichen Tag reiste der ehemalige Staats- und Parteichef, tief gebeugt und schwer krank, ins Exil nach Chile, wo er am 29. Mai 1994 starb. Nur ganz wenige Leute haben ihm eine Träne nachgeweint.

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