Visafrei bis Hawaii –
"Waaahnsinn" war am 9. November 1989 das Wort des Tages,
an dem die Mauer fiel



Nicht jeder DDR-Bürger bekam ein Visum wie dieses aus dem Jahr 1978 für Rentner, das zu einer Reise in den Westen berechtigte.



In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 war an der Übergangsstelle Bornholmer Straße kein Halten mehr. Ohne Befehle von "oben" abzuwarten, zogen DDR-Grenzer den Schlagbaum hoch und ließen die Ostberliner passieren; die meisten waren nach wenigen Stunden wieder zurück. (Foto/ Repro: Caspar)

Wichtigste Forderungen der Montagsdemonstrationen waren im Herbst 1989 freie Wahlen, Reisefreiheit und Abschaffung der „führenden Rolle“ der SED. „Visafrei bis Hawaii“ und „Die Mauer muss weg“ waren sehr zum Verdruss der Parteiführung und der Stasi damals oft skandierte Parolen. Der am 6. November 1989, zwei Tage nach der machtvollen Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz, dem DDR-Volk wie ein Knochen vorgeworfene Entwurf für ein Reisegesetz trug mitnichten zur Beruhigung bei. Bereits zwei Tage nach der Entmachtung von Honecker am 18. Oktober 1989 als SED- und Staatschef von dessen Nachfolger Egon Krenz in Auftrag gegeben, sah es für jeden DDR-Bewohner mit Ausnahme von Mitarbeitern der Schutz- und Sicherheitsorgane einen Monat Auslandsaufenthalt pro Jahr vor, legte aber weiterhin ein bürokratisches Genehmigungsverfahren fest, wie man bereits vom bisherigen Prozedere kannte. Ungeklärt war, inwiefern Reisende ins „kapitalistische Ausland“ mit Devisen ausgestattet werden können. Voraussetzung für eine Auslandsreise war ein gültiger Reisepass, den viele DDR-Bürger nicht besaßen und erst beantragen mussten, und ein Visum, welches von der Polizei innerhalb von dreißig Tagen nach Antragstellung erteilt werden sollte. Nach Plänen der Regierung sollte der Entwurf „breit diskutiert“ werden, so dass das dann von der Volkskammer beschlossene Gesetz irgendwann im Dezember 1989 in Kraft gesetzt worden wäre.

Was ein Jahr, selbst ein Monat zuvor als Riesenfortschritt begrüßt worden wäre, erregte jetzt nur noch Unmut und Hohn. Selbst gutwillige Genossen empfanden die „zur Diskussion“ vorgelegten Paragraphen als Zumutung. Zwar wurde jetzt nahezu allen DDR-Bewohnern die Möglichkeit zur Reise in den Westen eingeräumt, doch wurden ihnen wie bisher lange Warteschlangen, Antragsformulare und Befragungen zugemutet. Die Folge dieses durch und durch verunglückten Gesetzentwurfes waren erneute Demonstrationen in Leipzig und anderen Städten, bei denen Hunderttausende nach einem Reisegesetz ohne Reglementierungen riefen.

Am 7. November trat die Regierung Stoph geschlossen zurück, blieb aber bis zur Wahl eines neuen Ministerpräsidenten, der dann Hans Modrow hieß, geschäftsführend im Amt. Am gleichen Tag lehnte der Verfassungs- und Rechtsausschuss der Volkskammer den Entwurf des Reisegesetzes als „unzureichend und inkonsequent“ ab. In die Enge gedrängt, suchte das SED-Politbüro, das als wichtigste Institution im Staate über alle relevanten Dinge zu beraten und zu entscheiden hatte, nach einem Ausweg. Er sah so aus, dass die Reisefreiheit gewährt werden soll, nachträglich sollte die Volkskammer das noch zu überarbeitende Gesetz beschließen. Politbüromitglied Günter Schabowski verkündete auf einer internationalen Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 eher beiläufig, dass das Reisegesetz, das ja noch nicht beschlossene Sache war, „sofort“ gelten würde. Wörtlich erklärte er: „Also, Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässen und Verwandtschaftsverhältnissen beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Zuständige Abteilungen, Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter in der DDR sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen...Das tritt nach meiner Kenntnis, ähh, ist das sofort, unverzüglich".

Diese Äußerung wurde von vielen DDR-Bürgern so verstanden, dass sie sich sofort auf den Weg machten, um ihr eben zugestandenes Recht auf Reisefreiheit einzufordern. Völlig konsternierte und vergeblich auf Anweisungen aus dem Ministerium für Staatssicherheit, dem Innen- und dem Verteidigungsministerium wartende Grenzer gaben dem Druck tausender Wartender nach und öffneten noch in der gleichen Nacht die Schlagbäume. Am Übergang Bornholmer Straße, der als allererste geöffnet wurde, soll ein Gedächtnisort entstehen. Die von Pflanzen überwucherte und zubetonierte Freifläche, auf der sich die Abfertigungsbaracken und der Schlagbaum befanden, den entnervte Grenzer in der Nacht vom 9. zum 10. November hochzogen, soll neu gestaltet werden. Bisher erinnert nur ein bescheidener Stein mit Inschriftenplatte an das dramatische Geschehen von vor 20 Jahren. Viele werden sich erinnern, dass „Waaahnsinn“ das am meisten gerufenen Wort in der Nacht der Nächte und noch längere Zeit danach war. Das mögen auch die "führenden Persönlichkeiten" der DDR gemurmelt haben, als sie am nächsten Tag den Scherbenhaufen sahen. Dass sie in Kürze abgewirtschaftet haben würden, ahnte keiner von ihnen.

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