Unrealistische Visionen fanden wenig Sympathie - Sehr zum Ärger der SED- und Staatsführung wurden Politparolen oft in ihr Gegenteil verkehrt



Mit ewigen Versprechungen Ernst zu machen und „Demokratie jetzt“ einzuführen, war die wichtigste Forderung im Wendeherbst 1989, hier ausgesprochen vor dem Palast der Republik in Berlin: (Repro: Caspar)

„Arbeite mit, plane mit, regiere mit!“ war eine Parole, um die Leistungsbereitschaft der Werktätigen in der DDR anzustacheln. Natürlich wusste jeder, dass er zwar arbeiten und auch mitarbeiten soll, und man tat das auch, aber mitplanen und gar mitregieren? Diese in der DDR-Verfassung verankerten demokratischen Rechte ließ sich die SED nicht aus der Hand nehmen, auch wenn weitere gesellschaftliche Kräfte zum Mitmachen aufgerufen und angehalten wurden.

Wie so oft haben witzige DDR-Bewohner die ihnen von der Abteilung Agitation und Propaganda des SED-Zentralkomitees vorgegebenen Slogans umgedeutet. Der Staats- und Parteiführung stieß unangenehm auf, dass man ihr oben erwähntes, an sozialistischen Patriotismus appellierendes Motto in „Arbeite mit, plane mit, resigniere (reagiere) mit!“ verballhornte und damit entwertete. Ähnlich erging es der Parole, die von „Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben“ in „Wie wir heute leben, werden wir morgen arbeiten“ umgedreht wurde. Den meisten DDR-Bewohnern lag die Verbesserung der eigenen Lebensumstände näher am Herzen als unrealistische Visionen, und dazu gehörten neben der Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs und hochwertigen Industriegütern einschließlich Autos auch besserer Wohnraum sowie die Ausübung der demokratischen Grundrechte, eine wahrheitsgemäße Informationspolitik und natürlich die Reisefreiheit. Erst wenn dies alles erreicht ist, könne man weitergehende Ziele angehen, meinten viele DDR-Bewohner. Manche mögen dabei an Brechts Wort gedacht haben, wonach erst das Fressen, dann die Moral kommt, oder sie haben sich der im Parteilehrjahr vermittelten Erkenntnis von Karl Marx erinnert, wonach das Sein das Bewusstsein bestimmt.

Unmittelbar nach der Entmachtung von Erich Honecker als SED-Generalsekretär gab dessen Nachfolger und „Kronprinz“ Egon Krenz am Abend des 18. Oktober 1989 in Anlehnung an Lenins Ratschlag „Lernen, lernen und nochmals lernen“ den Parteiauftrag „Arbeit, Arbeit, Arbeit“ aus. Der Plan, das nach dem Auswechseln von wenigen Spitzenfunktionären angeblich „erneuerte“ Staatsschiff DDR wieder in ruhige, das heißt sozialistische Fahrwasser zu lenken, ging nicht auf, denn Krenz & Co. dachten nicht im Traum daran, ihren Alleinherrschaftsanspruch aufzugeben, wirkliche Reformen anzugehen, sich einer freien, demokratischen Wahl zu stellen und den Sozialismus an Haupt und Gliedern zu erneuern. Erst unter dem Zwang der Ereignisse musste die Partei der Arbeiterklasse, wie sich die SED seit ihrer Gründung im April 1946 durch Zusammenschluss von KPD und SPD nannte, von ihrer Spitzenposition Abschied nehmen. Längere Zeit diskutiert und dann von der SED-Führung als unumgänglich angekündigt, strich die Volkskammer am 1. Dezember 1989 die Bestimmung aus dem Artikel 1 der DDR-Verfassung, der die führende Rolle der Arbeiterklasse und ihrer Partei in der DDR, also der SED, festschrieb. Dieser so wichtige Artikel definierte die DDR als sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern und als „die politische Ordnung der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“. In einem Kommentar stellte am 2. Dezember 1989 das NEUE DEUTSCHLAND fest, das Hohe Haus, also die Volkskammer, habe die Verfassung in Übereinstimmung mit der Realität unseres politischen Lebens und der gesellschaftlichen Realität gebracht und auf eine in der letzten Zeit millionenfach erhobene Forderung reagiert. Das gesetzlich verankerte Prinzip der Führung des Staates und der Gesellschaft durch eine Partei sei damit beseitigt; beseitigt sei der „administrativ-absurde Anspruch, als Partei unabhängig von theoretischen und praktischen Leistungen immer und ewig an der Spitze zu stehen“. Die SED werde sich künftig als eine unter mehreren Parteien verstehen, als eine Partei, die ihre Ziele demokratisch bestimmt und um deren Verwirklichung kämpft, indem sie die Menschen überzeugt – nicht kommandiert – und um Mehrheit ringt.

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"