Tod den Kulaken - Vor 80 Jahren startete der sowjetische Diktator Josef Stalin einen blutigen Feldzug gegen Großbauern und andere „Volksfeinde“



So sah sich Stalin am liebsten – übergroß, makellos, nicht alternd. Das Gemälde entstand um 1949 zum 70. Geburtstag des Diktators, und so kann man ihn heute im russischen Fernsehen und in den Kinos betrachten. (Repro: Caspar)

Der sowjetische Diktator Josef Stalin hat, obwohl am 5. März 1953 gestorben, in der Russischen Föderation Konjunktur. Im Fernsehen und in Spielfilmen kommt der Generalissimus freundlich lächelnd, eine Pfeife rauchend und in schneeweißer Uniform daher und lässt sich von seinen Untertanen als „Vater aller Werktätigen“ feiern. Vergessen ist offenbar Schock, der 1956 und danach durch die damalige Sowjetunion und das kommunistische Weltsystem ging, als nach und nach die Wahrheit darüber ans Tageslicht kam, wer der „Stählerne“ wirklich war, der eigentlich Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili hieß. Wer nicht unmittelbar von seiner Gewaltpolitik betroffen war, mochte nicht wahr haben, dass auf Stalins Konto viele Millionen Menschen gingen. Für viele Russen gilt heute, dass Stalin die Sowjetunion im Kampf gegen Hitlerdeutschland zum Sieg geführt hatte. Dass es „Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit“ gegeben hat, so die Umschreibung seiner Verbrechen, verzeiht man dem aus Georgien stammenden Halbgott, und man hält ihm zugute, dass er aus dem rückständigen Agrarstaat eine Industrienation, ja eine im Besitz von Atomwaffen befindliche Weltmacht gemacht hat.

Nach der Oktoberrevolution (1917) war Stalin als Volkskommissar für Nationalitätenfragen Lenins Mann fürs Grobe. Indem er gewaltsam mit Hilfe der Roten Armee und des Geheimdienstes die von Russland abgefallenen Kaukasusvölker in den sowjetischen Herrschaftsbereich eingliederte und oppositionelle Kräfte liquidierte, machte er sich Lenin, dem Gründer des Sowjetstaates, unentbehrlich. Stalin kletterte in der Parteihierarchie von einer Stufe zur anderen, wurde 1922 Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU und arbeitete unermüdlich mit Hilfe von Intrigen und falschen Anschuldigungen an der Stärkung seiner Machtposition mit dem Ziel, die Nachfolge des erkrankten Lenin zu erringen. Nach Lenins Tod am 21. Januar 1924 verloren Mitkämpfer in der Oktoberrevolution, etwa Bucharin, Sinowjew und Trotzki, erst ihre Partei- und Regierungsämter, und dann das Leben. Außer ihnen kamen unzählige Untertanen des „roten Zaren“ Josef Stalin in Straf- und Arbeitslagern sowie unter den Salven der Erschießungskommandos ums Leben. Dass die meisten nach Stalins Tod rehabilitiert wurden, ist der Beweis für das Unrecht, das man ihnen angetan hat.

Kein Geringerer als Parteichef Nikita Chruschtschow, der als einer der engsten Mitarbeiter des toten Gewaltherrschers über intime Kenntnisse über die Opfer des Stalinsystems verfügte und sich nun als großer Aufklärer und Saubermann aufspielte, erklärte 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU in einer Geheimrede, dass Stalin nicht mit dem Mittel der Überzeugung, der Erklärung und der geduldigen Arbeit mit den Menschen gehandelt habe, sondern ihnen seine Vorstellungen aufgezwungen und absolute Unterordnung unter seine Meinung verlangt habe. „Wer sich dem entgegenstellte oder versuchte, seinen eigenen Gesichtspunkt und die Richtigkeit seines Standpunktes zu begründen, war zum Ausschluss aus dem Leitungskollektiv und in der Folge zur moralischen und physischen Vernichtung verurteilt. So war es insbesondere im Zeitraum nach dem XVII. Parteitag (1934), als dem Despotismus Stalins viele ehrliche, der Sache des Kommunismus ergebene, hervorragende Parteifunktionäre und einfache Parteiarbeiter zum Opfer fielen“.

Chruschtschow wies in jener bald auch im Westen bekannt gewordenen Rede darauf hin, dass Stalin den Begriff „Volksfeind“ erfunden hat. Damit wurden alle etikettiert, die nicht punktgenau die Befehle aus Moskau befolgten. Stalin habe die Leninsche Methode der Überzeugung und Erziehung zurück gewiesen und sei den Weg des Terrors gegangen. „Er machte in zunehmendem Maße und immer hartnäckiger die Straforgane zu seinem Werkzeug, wobei er oft alle bestehenden Normen der Moral und die sowjetischen Gesetze mit Füßen trat.“

Zwar lobte Chruschtschow die Rolle von Stalin bei der Vernichtung der innerparteilichen Opposition und als militärischer Führer im Großen Vaterländischen Krieg gegen Nazideutschland, vermied es aber, die Verluste an Blut und Gut bei der Umwandlung in einen, wie es hieß, sozialistischen Musterstaat zu beziffern. Ende der zwanziger Jahre war unter Stalins Leitung mit der Kollektivierung der Landwirtschaft begonnen worden. Bauern wurden gezwungen, sich zu Kolchosen zusammenzuschließen (in der DDR nannte man sie Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften!). Hintergrund der Maßnahe war, im Agrarbereich nachzuholen, was schon unter Lenin im industriellen Sektor durchgesetzt wurde – die Vergesellschaftung der Produktion, koste es, was es wolle. Kolchosmitglieder mussten tun, was die Leitung bestimmte, Eigeninitiative war von vorn herein verdächtig und wurde als volksfeindlich verfolgt. Vor allem hatten es Stalin und seine Gefolgsleute auf die Kulaken, also die Mittel- und Großbauern, abgesehen. Wer dazu gezählt wurde, entschieden örtliche Gewalten unter Einschluss des Geheimdienstes, und man kann sich vorstellen, dass bei der Einstufung, die ein Todesurteil sein konnte, auch persönliche Gründe eine Rolle spielten.

Solange die Kulaken nicht liquidiert waren, bedeuteten sie eine Gefahr für das kommunistische Herrschaftssystem. Niemand hat die zu Staats- und Parteischädlingen erklärten Menschen gezählt, die ab 1930, also vor 80 Jahren, in Arbeitslagern zugrunde gingen oder gleich erschossen wurden.

Die Folge der mit Macht vorangetriebenen Umstrukturierung auf dem Lande war, dass viele Menschen ihr Heil in den Städten suchten. Zwischen 1929 und 1936, als der Terror gegen die eigene Bevölkerung sowie gegen Funktionäre selbst aus der engsten Umgebung des Diktators große Opfer forderte, nahm die Zahl der Städte mit über 100 000 Einwohnern rasant zu. Da immer weniger Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zur Verfügung standen und diese auch maschinell schlecht ausgestattet war, blieben Ernährungskrisen nicht aus. Ihrer versuchte die Regierung, mit Hilfe von ungelernten Arbeitern beizukommen, die aus den Städten aufs Land geschickt wurden. Doch genutzt hat das nicht viel. Zwar wurden gute Leistungen durch Prämien und Vergünstigungen, ja auch durch Wohnraum und Zuteilung von Waren über das Lebensnotwendige hinaus belohnt, aber die Produktivität ließ zu wünschen übrig, und das hatte, wie wir es auch aus 40 Jahren DDR kennen, gravierende Versorgungsmängel zur Folge. Diese konnten durch den sozialistischen Wettbewerb nicht behoben werden, mochte die Propaganda noch so sehr das „Heldentum am Arbeitsplatz“ in den Himmel heben. Da nichts half, wurde die Schuld an der Misere Saboteuren und Agenten feindlicher Mächte in die Schuhe geschoben. Unter Folter gestanden sie ihre „Schuld“ ein und wurden dem Volk in Schauprozessen vorgeführt. Niemand wagte es, die wahren Ursachen für die materielle und geistige Not zu benennen; er hätte dies nicht überlebt.

Die Folge der Kommandowirtschaft, die erst unter Michail Gorbatschow ab Mitte der achtziger Jahre nach und nach aufgehoben wurde, waren gravierend. Nicht der Wohlstand wuchs wie versprochen, sondern das Massenelend nahm zu. In den Hungersnöten der frühen dreißiger Jahre kamen Millionen Untertanen des Josef Stalin zugrunde. Sie müssen jenen Menschen hinzugezählt werden, die der rote Zar vor die Gerichte stellen und anschließend hinrichten ließ. Es wird berichtet, dass örtliche Funktionäre bei der Meldung von „Staatsfeinden“ bestimmte Quoten erfüllen mussten. Taten sie es nicht, dann waren sie selber in Lebensgefahr. Unter diesen Umständen blühte das Denunziantentum. Wer sein Dach deckte und sich von seinem Ersparten eine Maschine kaufte, wenn er denn eine bekam, musste damit rechnen, als Kulak angezeigt zu werden und sein Leben zu verlieren.

Stalin hatte sich die Ausrottung der auf 14 Millionen geschätzten Kulaken als „Klasse“ auf die Fahne geschrieben, und mit krimineller Energie verfolgte er dieses Ziel und unterdrückte brutal örtliche Erhebungen und Demonstrationen. Intern sprach die Parteiführung von Bauernkriegen, offiziell aber verkündeten die Medien gefälschte Produktionsziffern, und wenn einmal Reisende aus dem Westen kamen um zu sehen, was an den Berichten über Hunger in der Sowjetunion dran ist, dann inszenierte der Geheimdienst blühende Landschaften, in denen lachende Menschen begeistert ihrer Arbeit nachgehen. So kommt es, dass außerhalb der Sowjetunion falsche Vorstellungen über die Vorgänge dort verbreitet wurden. War es in den frühen zwanziger Jahren noch möglich, Hilfsaktionen zur Linderung des Hungers in der noch ganz jungen Sowjetunion zu organisieren, so wurde jetzt alles vertuscht. Zum ausgefeilten System für die Unterdrückung der Bevölkerung gehörte die schon aus der Zarenzeit bekannte Deportation von „Volksschädlingen“ in entlegene Gegenden des sowjetischen Riesenreiches oder die Einweisung in Zwangsarbeitslager. Was sich in diesem teuflischen „Archipel Gulag“ abspielte, haben der Schriftsteller Alexander Solschenizyn und andere Autoren, fußend auf eigenem Erleben, dargestellt. Es versteht sich, dass diese Literatur in der Sowjetunion, der DDR und den anderen Satellitenstaaten verboten war. Zur systematischen Entrechtung gehörte 1932 die Einführung eines Inlandpasses, der die Bewegungsfreiheit der Bevölkerung massiv einschränkte, sowie eine permanente Meldepflicht, die durch Stempeleinträge nachgewiesen werden musste. Ohne die entsprechenden Dokumente gab es keine Lebensmittel oder Wohnungen. Gegenüber dem britischen Premierminister Winston Churchill, seinem zeitweiligen Weggefährten im Zweiten Weltkrieg, brüstete sich Stalin, dass die Kollektivierung allein in der Ukraine mit all ihren verheerenden Folgen zehn Millionen Todesopfer gekostet habe, spätere Berechnungen gehen weit darüber hinaus. Da ist es nicht zu verstehen, warum der Massenmörder in der weißen Uniform zumindest in Teilen der nachfolgenden Generationen Verklärung und Absolution erhält.

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