Spurensuche auf berühmter Amüsiermeile -
Harald Neckelmann geht durch die Friedrichstraße und zeigt historische Fotos



Unzählige Menschen kamen am Bahnhof Friedrichstraße an und stürzten sich auf der drei Kilometer langen Amüsier- und Einkaufsmeile ins Getümmel. Ihre Geschichte wird jetzt in einem neuen Buch erzählt.



Nur wenige aus der Kaiserzeit stammende Gebäude auf der Friedrichstraße und ihren Seitenstraßen haben den Zweiten Weltkrieg und die Umbauten davor und danach überstanden. Hier ein Blick in die Zeit, als noch Pferdedroschken das Bild beherrschten. (Repros: Caspar)

Vor hundert Jahren war die Friedrichstraße eine berühmt-berüchtigte Flanier- und Amüsiermeile. Die Hotels, Bierpaläste, Cafés, Kinos und Kaschemmen, die Kaufhäuser und Varietes, die Schreckenskammern und Monstrositätenkabinette und die vielen anderen Attraktionen waren voll von Besuchern. Der Journalist, Stadtführer und Bildersammler Harald Neckelmann hat sich auf die Spur gemacht.

Von Haus zu Haus gehend, schildert er in seinem neuen Buch die spannende Geschichte der drei Kilometer langen Straße zwischen Belle-Alliance-Platz, dem heutigen Mehringplatz, und dem Oranienburger Tor. Das Buch mit 141 Seiten und 250 zum Teil zum erstenmal veröffentlichten Fotos und Grafiken erschien im Berlin Story Verlag und kostet 19,80 Euro. Es lädt zu einem historischen Bummel durch die nach dem ersten preußischen König Friedrich I. benannte Glitzer-Avenue ein und schaut auch in dunkle Seitenstraßen.

Selbst Berlinfans werden überrascht sein zu lesen, was sich so alles hinter den kaiserzeitlich-protzigen Fassaden der Friedrichstraße tat und tummelte. Man hat damals täglich bis zu 120 000 Personen an Berlins berühmtester Ecke Unter den Linden/Friedrichstraße gezählt. Hier regelte ein Polizist den rasch wachsenden Autoverkehr. Da seine Trillerpfeife den Krach nicht übertönte, griff er zur Trompete - und wurde gehört.

Wer auf Liebesabenteuer jedweder Art aus war, fand sie in Etablissements von oft zweifelhaftem Ruf. Viele der aus purer Not zu ihrer nicht ungefährlichen Arbeit gezwungenen Dirnen und Stricher begnügten sich mit einem Lohn, der oft nur mit einem Abendessen oder einer warmen Schlafgelegenheit bestand. Mondäner ging es in Theatern, Kabaretts, Kinos und Galerien zu. Wer auf die Besichtigung von Folterwerkzeugen und Hinrichtungsutensilien samt abgehackten Verbrecherköpfen aus war, ging zum Gruseln ins Panoptikum. Da die Würde des Menschen damals nicht sehr hoch geachtet wurde, kam es vor, dass in Passagen verkrüppelte, von oben bis unten behaarte Menschen sowie siamesische Zwillinge, aber auch so genannte wilde Kongoweiber und Leute mit extremen Verwachsungen sowie medizinische Präparate öffentlich zu Schau gestellt und bejohlt wurden. Angeblich soll der Hungerkünstler Jolly im Restaurant „Hackepeter“ 44 Tage ohne Nahrungsaufnahme inmitten laut schmausender Leute ausgehalten haben. Wenn allerdings die Gäste weg waren, sollen die Betreuer ihm heimlich Schokolade zugeschoben haben. Die Bierkeller-Attraktion sollte ja am Leben bleiben, denn sie brachte den Ausstellern und Jolly viel Geld ein.

Die Pracht der alten Friedrichstraße ist lange dahin. Der Zweite Weltkrieg machte aus ihr eine Trümmerlandschaft. Von den zerstörten und den wenigen erhalten gebliebenen Häusern zeigt Harald Neckelmann charakteristische Innen- und Außenansichten, verbunden mit alten Werbeplakaten und anderen Grafiken. Nach dem Aus für das „Tacheles“ sind die Beschreibungen des ursprünglichen Bauwerks unweit des Oranienburger Tors von Wert. Der Komplex hieß eigentlich Friedrichstraßen-Passage und war vor hundert Jahren durch seine ungewöhnliche Konstruktion und Struktur und seinem reichen Angebot eines der modernsten Kaufhäuser des alten Berlin. Wenn das Haus, das nach 1933 hochrangige Behörden der Nazis und der SS beherbergte, eines Tages wieder auf- und ausgebaut wird, avanciert es zu einem dann wieder sicher gut frequentierten Zeugen der Berliner und deutschen Geschichte der vergangenen hundert Jahre.

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