Einhundert und ein Jahr Schweigen

Stele neben der Berliner Hedwigskathedrale erinnert an den Völkermord an den Armeniern mitten im Ersten Weltkrieg



Die Gedenkstele für die ermordeten Armenier wurde am 23. April 2016
neben der Berliner Hedwigskathedrale enthüllt.




Die französische Karikatur verspottet den "kranken Mann am Bosporus",
mit dem der mit dem deutschen Kaiser Wilhelm II. freundschaftlich
verbundene Sultan Abdül Hamid II. gemeint war. (Foto/Repro: Caspar)


Die Armenische Gemeinde in Deutschland hat nahe der Berliner Hedwigskathedrale einen Gedenkstein zur "Erinnerung an die unschuldigen Opfer des Völkermords an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich" aufgestellt, so eine in armenischer, deutscher und englischer Sprache abgefasste Inschrift auf der Rückseite der Stele. In einer Feierstunde am 24. April 2016 im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums wurde unter dem Motto "Armenischer Völkermord: 101 Jahre Schweigen" des Genozids in den Jahren 1915 bis 1917 gedacht. Der Ort für den Kreuzstein (armenisch Chatschkar) ist mit Bedacht ausgewählt worden, weil am 14. Mai 1919 die Deutsch-Armenische Gesellschaft in der katholischen Kirche am Opernplatz, dem heutigen Bebelplatz, einen Gottesdienst im Beisein von offiziellen Vertretern der Weimarer Republik sowie ausländischen Diplomaten abgehalten hat.

Mitten im Ersten Weltkrieg sollen eineinhalb Millionen Armenier von Soldaten des Osmanischen Reichs ermordet oder in den Tod getrieben worden sein. Die herrschende Clique verteufelte sie als Wucherer, die schlimmer noch als die Juden seien, und sahen in ihnen nur Ungeziefer, das beseitigt werden muss. Diesem Urteil schlossen sich fast ausnahmslos kaiserlich-deutsche Diplomaten und Militärs an. Die Türkei war damals mit dem deutschen Kaiserreich verbündet, das dem Genozid untätig zusah, ja den Mordkommandos des Sultans hilfreich zur Seite stand. Jahrzehnte später wehrt sich die türkische Regierung mit Blick auf ihren Gründungsmythos dagegen, dass das unter der Regie der so genannten Jungtürken mit deutscher Hilfe begangene Verbrechen Völkermord genannt wird. Während man in Armenien von mindestens 1,5 Millionen zuwischen 1915 und 1917 ums Leben gekommenen Menschen spricht, glaubt die türkische Regierung, dass es "nur" 300.000 bis 500.000 waren, und rechnet auf, dass ebenso vielen Türken bei bürgerkriegsartigen Kämpfen und Hungersnöten gestorben sind. Um die Wahrheit nicht ans Licht kommen zu lassen, erhöht die türkische Regierung aktuell den Druck auf Intellektuelle und Journalisten im Inland und geht auch im Ausland verstärkt gegen unliebsame Kritiker vor.

Lange hat sich die Bundesrepublik Deutschland dagegen gesperrt, den Völkermord an den christlichen Armeniern als solchen zu bezeichnen. Nach jahrzehntelanger Zurückhaltung gab die Politik unter dem Eindruck bohrender Nachfragen und öffentlicher Diskussionen ihre Zurückhaltung gegenüber der Regierung in Ankara und den in Deutschland lebenden Türken auf. Bundespräsident Joachim Gauck gedachte am 23. April 2015 im Berliner Dom und der Deutsche Bundestag einen Tag später der Opfer, womit sie sich den Zorn der türkischen Regierung zuzogen. "Wir gedenken in dieser Stunde der Angehörigen des armenischen Volkes, die vor einem Jahrhundert zu Hunderttausenden Opfer von geplanten und systematischen Mordaktionen geworden sind. Unterschiedslos wurden Frauen und Männer, Kinder und Greise verschleppt, auf Todesmärsche geschickt, ohne jeden Schutz und ohne jede Nahrung in Steppe und in Wüste ausgesetzt, bei lebendigem Leibe verbrannt, zu Tode gehetzt, erschlagen und erschossen. Diese geplante und kalkulierte verbrecherische Tat traf die Armenier aus einem einzigen Grund: weil sie Armenier waren. Ähnlich traf es ihre Leidensgenossen, die Pontos-Griechen, die Assyrer oder Aramäer", erklärte Gauck. Das Schicksal der Armenier stehe "beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist. Im Schatten von Kriegen seien diese Verbrechen begangen worden, der Krieg habe auch als Legitimation solcher Untaten. So sei es im Ersten Weltkrieg den Armeniern geschehen, und so sei es im Laufe des 20. Jahrhunderts auch andernorts geschehen und so geschieht es bis heute, so Gauck.

Deutsche Militärs hatten sich mitten im Ersten Weltkrieg an der massenhaften Ausrottung der Armenier und zum Teil an Deportationen beteiligt. Die deutsche Reichsregierung ignorierte Warnungen aus Diplomaten- und Gelehrtenkreisen, denn sie war an guten Beziehungen zu ihren türkischen Verbündeten interessiert und nahm den Tod unzähliger Armenier und weiterer Völkerschaften in Kauf, die der Kollaboration mit dem Russischen Reich beschuldigt wurden. Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg erklärte in Kenntnis des Völkermordes: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht". Als Adolf Hitler am 22. August 1939 den Oberbefehlshabern der deutschen Heeresgruppen den Überfall auf Polen ankündigte, befahl er ihnen, "mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken" und stellte mit Blick auf das Jahr 1915 die Frage: "Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"

Erinnert sei, dass Sultan Abdül Hamid II., dessen Zeit jener Genozid stattfand, ausgesprochen dünnhäutig war, wenn man ihn wegen seiner riesigen Nase verspottete. Scherze über diesen Körperteil kränkten den Autokraten so sehr, dass er das Wort Nase kurzerhand verbot. Der Erlass bewirkte, dass Karikaturisten sich nun erst recht seines Riechorgans annahmen und ihm in Bild und Schrift einen europa- und weltweiten Bekanntheitsgrad verschafften. Den Dichter Wilhelm Hauff konnte der Sultan wegen des Märchens "Zwerg Nase" nicht mehr belangen, weil er schon 1827 gestorben war.

Literaturtipp: Jürgen Gottschlich: Beihilfe zum Völkermord. Deutschlands Rolle bei der Vernichtung der Armenier. Christoph Links Verlag 2015. Das Buch steht auch als Print-Ausgabe im Angebot der Bundeszentrale für politische Bildung für 4,50 € zuzüglich der Versandkosten zur Verfügung.

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