Siegesparade fiel aus

Die vor 75 Jahren begonnene Blockade von Leningrad durch die deutsche Wehrmacht forderte bis zu 1,5 Millionen Menschenleben



Im Großen Vaterländischen Krieg wurden alle Kräfte mobilisiert, um die br> Invasoren für immer zu besiegen. Die "Mutter Heimat" ruft das
ganze Volk zum Widerstand auf.




Stalin weist seiner Roten Armee den Weg nach Westen, in das Herz von
Nazideutschland, das im Mai 1945 erobert war.




Ein Rotarmist schlägt auf diesem Plakat des deutschen Drachen den Kopf ab.
Unter welchen Verlusten das gelang, wird auf solchen Drucken nicht thematisiert.




Die deutsche Propaganda malte drastisch aus, was Hitlers Untertanen blüht,
wenn sie den "Endsieg" verfehlen. (Repros: Caspar)

Am 22. Juni 1941 überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Damit war der am 22. August 1939 in Moskau zu allgemeiner Überraschung abgeschlossene Deutsch-Sowjetische Nichtangriffsvertrag Makulatur. Hitler hatte unter strengster Geheimhaltung ab Mitte Dezember 1940 den Angriff vorbereiten lassen, wobei sich der Codename auf den römisch-deutschen Kaiser Friedrich I., genannt Barbarossa, bezog. Die Sowjetunion sollte in einem Blitzkrieg besiegt werden, um das unter deutscher Besatzung stehende Kontinentaleuropa gegen britische und amerikanische Vorstöße abzusichern. In seiner Weisung 21 vom 18. Dezember 1940 die Grundzüge des Unternehmens Barbarossa festgelegt und darin die Besetzung von Leningrad und Kronstadt als zentrale Vorbedingung für die Fortführung der Angriffsoperationen zur Besitznahme des wichtigen Verkehrs- und Rüstungszentrums Moskau beschrieben. Ungeachtet rascher Vorstöße bis weit in den Osten misslang dieser Plan. Stalin stellte seine Truppen neu auf und kurbelte die Kriegsproduktion massiv an. Das ganze Land vereinigte seine Kräfte, die totale Unterjochung und Ausblutung durch die deutschen Faschisten vor Augen, im Großen Vaterländischen Krieg. Weder gelang es der Wehrmacht, Moskau zu erobern und dort eine Siegesparade zu veranstalten, noch die Bewohner von Leningrad durch die nahezu zweieinhalb Jahre währende Blockade in die Knie zu zwingen oder sich in anderen Regionen dauerhaft festzusetzen.

"Keine Heilsarmeemethoden"

Die Sowjetunion erlitt in dem Krieg riesige Verluste an Blut und Gut. Zahlreiche Städte und Dörfer wurden zerstört, Millionen Soldaten und Zivilisten kamen ums Leben, wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert oder gerieten in Gefangenschaft, wo es unzählige Todesopfer durch Erschießungen, Hunger und Krankheiten gab. Von den über fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen hat mehr als die Hälfte die Lagerhaft nicht überstanden. Von Beginn an war der Feldzug gegen die Sowjetunion als Vernichtungs- und Ausrottungskrieg gegen Juden, "Bolschewisten" und andere "Untermenschen" geplant, wie es in der Nazisprache hieß. Gemäß der von Hitler ausgegebenen Parole, das Deutsche Reich führe keinen Krieg mit "Heilsarmeemethoden", gingen seine Soldaten mit äußerster Brutalität in enger Kooperation mit den ihnen folgenden Einsatzgruppen der SS und weiteren Mordkommandos gegen die Rote Armee und die Zivilbevölkerung vor. Deutsche Befehlshaber und einzelne Soldaten beriefen sich auf Führerbefehle, nach denen sowjetische Soldaten niemals Kameraden sind, sondern den Tod verdienen.

Die von Hitler befohlene "Auslöschung" der ehemaligen Hauptstadt des Russischen Reiches und Kulturmetropole Sankt Petersburg, von 1924 bis 1991 Leningrad, und seiner Bewohner war ein erklärtes Kriegsziel des faschistischen Deutschlands. Die Millionenstadtstadt wurde nicht mit Waffengewalt erobert, was Soldaten und Material sparen sollte, sondern vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 von der Wehrmacht belagert und der Luftwaffe bombardiert sowie von Versorgungslinien abgeschnitten und so dem Hungertod preisgegeben. Dieses Ziel haben Hitler und seine Generäle nicht erreicht. Die Bewohner bewiesen trotz schrecklicher Hungersnot, Bombardierung und Beschießung eine schier unglaubliche Kraft, um dem Feind standzuhalten. Historiker schätzen, dass bis 1,5 Millionen Zivilisten bei der Blockade starben. Ihr Hungertod wurde von den Deutschen, einem Befehl Hitlers folgend, gezielt herbeigeführt und zählt zu den schlimmsten Kriegsverbrechen der Geschichte. Nach den von Henry Picker aufgezeichneten "Tischgesprächen" erklärte Hitler am 5. April 1942 im Hauptquartier Wolfsschanze, Leningrad müsse "verfallen". Wenn man bedenke, dass die Russen vom Fleisch krepierter Pferde lebten, "so könne man sich ausmalen, wie Bevölkerung Leningrads weiter schrumpfen würde. Die Zerstörung der Stadt durch Bombenwurf und Artilleriebeschuss habe auch bereits das Ihrige zu dem Vernichtungswerk beigetragen."

Unternehmen Nordlicht misslang

Im Winter verfügte die Millionenstadt, die 1703 als Sankt Petersburg gegründet worden war und heute wieder so heißt, lediglich über einen Weg auf dem zugefrorenen Ladogasee als Verbindung zur Außenwelt. Doch reichten die dort herbei geschafften Lebensmittel nicht aus, um die Einwohner zu versorgen. Es gelang jedoch, über diese "Straße des Lebens" zahlreiche Bewohner in Sicherheit zu bringen. In der warmen Jahreszeit bestand eine von den Deutschen durch Bombenangriffe gefährdete Schiffsroute. Um das Eindringen der Wehrmacht und der damals mit dem Deutschen Reich verbündeten Finnen zu verhindern, legten Bewohner und Soldaten einen mehrfach gestaffelten Verteidigungsring um die Stadt an der Newa an. Er bestand aus kilometerlangen Stacheldrahtverhauen, Schützen- und Panzergräben, Erd-Holz-Palisaden sowie Artilleriestellungen.

Im Rahmen des Unternehmens Nordlicht sollte die eingeschlossenen Stadt Leningrad im September 1942 eingenommen werden. Doch da das misslang, begann die Belagerung mit dem gleichen Ziel. Die zwischen dem Ladogasee und Leningrad stehenden sowjetischen Truppen sollten eingeschlossen und vernichtet werden. Ziel war es, die Stadt von Osten her eng einzuschließen und ihrer Nachschubwege über den Ladogasee abzuschneiden. Damit wollte die deutsche Führung verlustreiche Häuserkämpfe vermeiden und eine schnelle, propagandistisch gut auszuschlachtende Kapitulation der Stadt ähnlich im Fall von Warschau zu Beginn des Zweiten Weltkriegs im September 1939 erreicht werden. Hitler brauchte einen solchen Triumph, um von den Misserfolgen an anderen Frontabschnitten und vor allem von dem Desaster in Stalingrad abzulenken. Mehrfach versuchte die Rote Armee, die Belagerung Leningrads zu durchbrechen, doch erst im Sommer 1943 gelang ihr dieser Plan. Zu diesem Zeitpunkt hatte die deutsche Wehrmacht bereits ihr Fiasko bei Stalingrad erlebt und war auf dem Rückzug aus der am 22. Juni 1941 überfallenen Sowjetunion.

Dem Hungertod preisgegeben

Leningrad gilt als besonders schlimmes Beispiel für die deutsche Vernichtungs- und Hungerpolitik im Zweiten Weltkrieg, den Stalin als Großen Vaterländischen Krieg ausgerufen hatte. Es gelang der deutschen Luftwaffe, große Menge an Getreide, Mehl und Zucker zu vernichten, die über das Wasser herbeigeschafft werden sollten. Die Abriegelung verschärfte die Ernährungssituation in Leningrad enorm, und die wenigen Vorräte schwanden immer mehr. Als sie erschöpft waren, nahmen die Menschen alles zu sich, was irgendwie organischen und tierischen Ursprunges war. Der Tod war allgegenwärtig, in ihren eiskalten Wohnungen lebten die Leningrader mit ihren Toten zusammen, weil sie keine Möglichkeit hatten, sie zu bestatten.

Der verzweifelte Mut und die Opfer der Leningrader während der vor genau 75 Jahren begonnenen Belagerung waren und sind Gegenstand von Romanen, Erzählungen, Dokumentationen und Filmen. An sie erinnert der "Grüngürtel des Ruhms" mit einer Vielzahl von Bäumen, Denkmälern und Tafeln entlang des ehemaligen Frontverlaufs. Am 1. Mai 1945 erhielt Leningrad gemeinsam mit Odessa, Sewastopol und Stalingrad den Titel "Heldenstadt"; es folgten in späteren Jahren weitere Städte, alles in allem zwölf, sowie die Festung Brest. Der Komponist Dmitri Schostakowitsch entschied 1942: "Ich widme meine Siebente Sinfonie unserem Kampf gegen den Faschismus, unserem unabwendbaren Sieg über den Feind, und Leningrad, meiner Heimatstadt." Die Überlebenden der Blockade Leningrads erhalten in der Sowjetunion bzw. Russland eine monatliche Entschädigung. Es ist beschämend, dass bei diesen Menschen mit Wohnsitz in Deutschland deren Anspruch auf Sozialhilfe durch diese Rente gemindert wird. Sie wird nicht den deutschen Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz für Kriegsopfer und dem Bundesentschädigungsgesetz für Opfer des NS-Regimes gleich gesetzt.

8. September 2016

Zurück zur Themenübersicht "Geschichte, Zeitgeschichte, Ausstellungen"