"Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?"

Offiziere der kaiserlich-deutschen Armee machten sich vor einhundert Jahren am Völkermord im Osmanischen Reich mitschuldig



Die Propagandamedaille aus dem Jahr 1915 feiert stolz die
Waffenbrüderschaft zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn
und dem Osmanischen Reich. Unter den Köpfen der drei Staatsoberhäupter ist
eine militärische Lagebesprechung dargestellt. Auf der Rückseite
symbolisieren drei Soldaten das Militärbündnis.




Den auf der Karikatur abgebildeten Verbündeten im Ersten Weltkrieg nutzte
es nicht, dass sie ihre Ziele blutig und brutal verfolgten.
Ihre Zeit war längst abgelaufen, nur wussten sie es noch nicht.




Auf einem Berg von Totenschädeln sitzend erwartet Kaiser Wilhelm II.
sein Schicksal. In der Novemberevolution 1918 suchte er das Weite
und führte im holländischen Exil ein komfortables Leben als Pensionär.
(Foto/Repros: Caspar)


Der Deutsche Bundestag hat am 2. Juni 2016 nach mehreren vergeblichen Anläufen einen historischen Beschluss gefasst. Dieser bezeichnet den Völkermord an den im Osmanischen Reich lebenden christlichen Armeniern als Völkermord, dem bis zu 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dass die Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Vize Sigmar Gabriel sowie Außenminister Frank Walter Steinmeier wegen anderweitiger Termine der Abstimmung fern blieben, wurde von Gregor Gysi (Linke) als beschämend bezeichnet. Der Abgeordnete erinnerte daran, dass die armenische Bevölkerung in Anatolien vor 101 Jahren fast vollständig vernichtet wurde und dass das Deutsche Reich als damaliger Verbündeter des Osmanischen Reiches durch sein "schweigendes Wegschauen" Beihilfe zum Völkermord geleistet hat. "Endlich benennen auch wir es als das, was es war: ein Völkermord an bis zu 1,5 Millionen Armeniern sowie Aramäern und Angehörigen weiterer christlicher Minderheiten. Es gibt eine deutsche Mitschuld. Deshalb müssen wir an der Aufarbeitung intensiv mitarbeiten", sagte Gysi. Er warf der heutigen türkischen Regierung vor, "Regierungen und Ländern, die das Verbrechen des Völkermordes benennen, zu drohen." Wenn der Bundestag sich von Präsident Erdogan nicht einschüchtern lasse, beweise er seine Souveränität. Der Linken-Politiker kritisierte die Abwesenheit der Kanzlerin, die zu den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei "mehr schweigt als spricht". Eine Regierung sei nur dann souverän, wenn sie Menschenrechtsverletzungen klar benenne und verurteile. "Nicht nur dann, wenn es politisch gerade passt - immer!"

Der Deutsche Bundestag hatte im April 2005 erstmals eine von der CDU/CSU-Fraktion eingebrachte Entschließung debattiert, nach der die Türkei aufgefordert werden sollte, sich zu ihrer historischen Verantwortung für die damaligen Massaker zu bekennen. Die Verfasser des Antrags, die den Begriff "Völkermord" selbst vermieden, bedauerten "die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das angesichts der vielfältigen Informationen über die organisierte Vertreibung und Vernichtung von Armeniern nicht einmal versucht hat, die Gräuel zu stoppen." Im Juli desselben Jahres verabschiedete der Bundestag einstimmig einen Antrag aller Fraktionen, in dessen Begründung auf die über eine Million Opfer verwiesen und angeführt wurde, dass zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord bezeichneten. In einer Kleinen Anfrage vom 10. Februar 2010 bat die Fraktion Die Linke die damalige Bundesregierung um eine Stellungnahme dazu, ob sie die Massaker an den Armeniern 1915/16 als einen Völkermord im Sinne der UN-Konvention von 1948 betrachte. In der Antwort heißt es ausweichend: "Die Bundesregierung begrüßt alle Initiativen, die der weiteren Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/16 dienen. Eine Bewertung der Ergebnisse dieser Forschungen sollte Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftlern vorbehalten bleiben. Dabei ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Aufarbeitung der tragischen Ereignisse von 1915/16 in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Türkei und Armenien ist." Auf eine weitere Kleine Anfrage antwortete die Bundesregierung am 4. Juni 2010, sie sehe keinen Anlass, an der Authentizität der Dokumente im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes zu zweifeln, und nehme insgesamt keine Bewertung der vorliegenden Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zur Rolle des deutschen Kaiserreichs vor. Sie wies zudem darauf hin, dass die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes nicht rückwirkend gelte.

Wir verneigen uns vor den Opfern

In den folgenden Jahren haben sich Bundespräsident Joachim Gauck, Bundestagspräsident Norbert Lammert und andere Politiker dezidiert über den Völkermord an den Armeniern geäußert und auch diesen von der türkischen Regierung abgelehnten Begriff benutzt. Offizielle Meinung in der Türkei ist, dass nicht die Truppen des Osmanischen Reiches die Massaker angerichtet haben, sondern die Armenier. Ihnen wird Verrat am eigenen Land vorgeworfen, weil sie sich im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs auf die Seite des russischen Feindes gestellt hätten. Türkische Schüler lernen, dass es keinen Völkermord an den Armeniern gab und umgekehrt die Armenier einen Völkermord an den Türken begangen hätten. Diese Sicht muss von den Schülern auswendig gelernt werden. Der türkische Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk wurde im März 2011 wegen Verstoßes gegen den Artikel 301 des türkischen Strafgesetzbuches einer Schadenersatzzahlung an sechs Kläger verurteilt, die sich durch seine Äußerungen zu den Tötungen von Armeniern aus dem Jahr 2005 beleidigt fühlten. Pamuks Verurteilung stieß inner- und außerhalb der Türkei auf heftige Kritik. Der bewusste Artikel lautet in der Fassung von 2008: "(1) Wer die türkische Nation, den Staat der Türkischen Republik, die Große Nationalversammlung der Türkei, die Regierung der Türkischen Republik und die staatlichen Justizorgane öffentlich herabsetzt, wird mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft. (2) Wer die staatlichen Streitkräfte oder Sicherheitskräfte öffentlich herabsetzt, wird gemäß Abs. 1 bestraft."

Die jetzt ungeachtet der Abwesenheit zahlreicher Angeordneter vom Deutschen Bundestag beschlossene Resolution beginnt mit den Worten: "Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten des Osmanischen Reichs, die vor über hundert Jahren ihren Anfang nahmen. Er beklagt die Taten der damaligen jungtürkischen Regierung, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich geführt haben. Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäisch/assyrische und chaldäische Christen von Deportationen und Massakern betroffen. Im Auftrag des damaligen jungtürkischen Regimes begann am 24. April 1915 im osmanischen Konstantinopel die planmäßige Vertreibung und Vernichtung von über einer Million ethnischer Armenier. Ihr Schicksal steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist. Dabei wissen wir um die Einzigartigkeit des Holocaust, für den Deutschland Schuld und Verantwortung trägt. Der Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs trotz eindeutiger Informationen auch von Seiten deutscher Diplomaten und Missionare über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen. Das Gedenken des Deutschen Bundestages ist auch Ausdruck besonderen Respektes vor der wohl ältesten christlichen Nation der Erde. [...] Der Bundestag bekennt sich zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands. Dazu gehört, Türken und Armenier dabei zu unterstützen, über die Gräben der Vergangenheit hinweg nach Wegen der Versöhnung und Verständigung zu suchen. Dieser Versöhnungsprozess ist in den vergangenen Jahren ins Stocken geraten und bedarf dringend neuer Impulse. [...] Der Deutsche Bundestag begrüßt die Zunahme von Initiativen und Beiträgen in den Bereichen von Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kunst und Kultur auch in der Türkei, welche die Aufarbeitung der Verbrechen an den Armeniern und die Versöhnung zwischen Armeniern und Türken zum Ziel haben. Der Deutsche Bundestag ermutigt die Bundesregierung weiterhin, dem Gedenken und der Aufarbeitung der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern von 1915 Aufmerksamkeit zu widmen. Auch begrüßt der Deutsche Bundestag jede Initiative, die diesem Anliegen Anschub und Unterstützung zu verleihen. Die eigene historische Erfahrung Deutschlands zeigt, wie schwierig es für eine Gesellschaft ist, die dunklen Kapitel der eigenen Vergangenheit aufzuarbeiten. Dennoch ist eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte die wohl wichtigste Grundlage für Versöhnung sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch mit anderen."

Ernste Konsequenzen angekündigt

Der türkische Präsident Erdogan schäumt vor Wut und droht Deutschland mit ernsten Konsequenzen. Schon werden Botschafter abgezogen und in der Türkei sowie in der Bundesrepublik Deutschland Gegendemonstrationen organisiert. Dass in der Türkei der damalige Völkermord totgeschwiegen wird und alle Leute verfolgt und bestraft werden, die die Dinge beim Namen nennen, hat mit dem Gründungsmythos der türkischen Republik zu tun. Es wird alles vermieden und unterdrückt, was geeignet ist, einen Schatten auf die Entstehungsgeschichte des heutigen States zu werfen. In einer Kulturzeit-Sendung auf 3sat kam der Journalist und Historiker Jürgen Gottschlich zu Wort. Er hat die einschlägigen Akten gelesen und auf ihrer Grundlage das Buch "Beihilfe zum Völkermord" verfasst (Chr. Links Verlag 2015). In dem Fernsehbeitrag wurde unter anderem eine handschriftliche Notiz des damaligen Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg gezeigt und so zitiert: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht."

Der preußische Generalmajor Friedrich Bronsart von Schellendorf, seines Zeichens Generalstabschef des türkischen Heeres, begrüßte die Deportation der Armenier, denn diese seien neunmal schlimmer als die Juden. Anfang 1919 bemerkte er: "Der Armenier ist, wie der Jude, außerhalb seiner Heimat ein Parasit, der die Gesundheit eines anderen Landes, in dem er sich niedergelassen hat, aufsaugt. Daher kommt auch der Hass, der sich in mittelalterlicher Weise gegen sie als unerwünschtes Volk entladen hatte und zu ihrer Ermordung führte." Der Chef des Generalstabs der Osmanischen Armee gilt unter Historikern als einer der Initiatoren des Völkermords. Sein Kollege, Admiral Wilhelm Souchon, meinte, für die Türkei würde es eine Erlösung sein, "wenn sie die letzten Armenier umgebracht hat, sie würde dann die staatsfeindlichen Blutsauger los sein."

Nachdem das Osmanische Reich im Jahr 1914 an der Seite Deutschlands in den ersten Weltkrieg eingetreten war, wurde im April und im Juni 1915 auf Betreiben des türkischen Innenministers in mit Wissen der deutschen Verbündeten Jagd auf die armenische Elite in Konstantinopel gemacht. Als Vorwand diente die Unterstützung der feindlichen Russen durch armenische Freiheitskämpfer. Am 2. Juni 1921 wurde der Prozess gegen Soghomon Tehlirjan vor dem Landgericht Berlin-Moabit eröffnet. Er hatte am helllichten Tag den ehemaligen Innenminister des Osmanischen Reichs Talat Pascha in Berlin erschossen. "Nicht ich bin der Mörder, sondern er", verteidigt Tehlirjan seinen Mordanschlag auf den Hauptverantwortlichen für die Vertreibung und Ermordung der Armenier 1915 und 1916. Nach nur anderthalb Verhandlungstagen dann die Sensation: Tehlirjan wurde freigesprochen.

Unbarmherzig und mitleidslos

Hitler stellte im August 1939 in internem Kreis auf dem Obersalzberg kurz vor dem Überfall auf Polen die rhetorische Frage "Wer spricht heute noch von der Vernichtung der Armenier?" und meinte damit, dass einer Siegermacht alles verziehen wird. Wörtlich erklärte der deutsche Diktator: "Unsere Stärke ist unsere Schnelligkeit und unsere Brutalität. Dschingiskhan hat Millionen Frauen und Kinder in den Tod gejagt, bewusst und fröhlichen Herzens. Die Geschichte sieht in ihm nur den großen Staatengründer. Was die schwache westeuropäische Zivilisation über mich behauptet, ist gleichgültig. Ich habe den Befehl gegeben und ich lasse jeden füsilieren, der auch nur ein Wort der Kritik äußert, dass das Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidslos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"

Der von dem österreichischen Schriftsteller Franz Werfel verfasste Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh" (1933) klagt den Völkermord an den Armeniern an und schildert den armenische Widerstand auf dem Musa Dagh unter der Führung von Moses Der Kalousdian. Das Buch wurde im 1934 in Nazideutschland wegen "Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung" verboten. Die im Exil lebenden Armenier nahmen den auf dem Studium einschlägiger Akten beruhenden Roman mit großer Begeisterung auf. Auf einer Reise nach Amerika im Jahre 1936 wurde Franz Werfel in New York von den Armeniern gefeiert. In einer armenischen Kirche sagte ein Priester in seiner Predigt: "Wir waren eine Nation, aber erst Franz Werfel hat uns eine Seele gegeben."

Es wäre nötig, dass Historiker nicht nur den Völkermord an den Armeniern und weiteren Völkerschaften aufarbeiten, sondern auch dem sich anschließende Schweigen auf den Grund gehen und die Linie zum Massenmord der Nazis an den deutschen und europäischen Juden und den Vernichtungskrieg in Polen, der Sowjetunion und anderen okkupierten Ländern ziehen. Die Propagandamedaille aus dem Jahr 1915 feiert stolz die Waffenbrüderschaft zwischen dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich. Unter den Köpfen der drei Staatsoberhäupter ist eine militärische Lagebesprechung dargestellt. Auf der Rückseite symbolisieren drei Soldaten das Militärbündnis. Den auf der Karikatur abgebildeten Verbündeten im Ersten Weltkrieg nutzte es nicht, dass sie ihre Ziele blutig und brutal verfolgten. Ihre Zeit war längst abgelaufen, nur wussten sie es noch nicht. Auf einem Berg von Totenschädeln sitzend erwartet der deutsche Kaiser Wilhelm II. sein Schicksal. In der Novemberevolution 1918 suchte er das Weite und führte im holländischen Exil ein komfortables Leben als Pensionär. (Foto/Repros: Caspar)

(4. Juni 2016)

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