Wenn einer was tapeziert, muss das der andere auch tun?

Die SED-Führung fürchtete Gorbatschows Glasnost und Perestroika so sehr, dass sie sich 1989 zu einem unpassenden Vergleich hinreißen ließ



Der mächtige Kurt Hager ging nicht nur als Herr über die Kunst, das
Verlagswesen und andere Bereiche unrühmlich in die DDR-Geschichte ein,
sondern auch als einer, den sein Chef Erich Honecker zum "Tapetenkutte" machte,




Die freundschaftliche Einigkeit zwischen den Parteiführern Gorbatschow und
Honecker war nur gespielt, in Wahrheit begegneten sie sich mit großem Misstrauen.




In DDR-Zeiten war es undenkbar, dass der sowjetische Parteischef mit dem
auffälligen Brandmal auf der Stirn als Matroschkapuppe auf Trödelmärkten
angeboten wurde. (Foto/Repros: Caspar)


Mit einem propagandistischen Trara wurden im Frühjahr die für den 7. Mai 1989 angekündigten Kommunalwahlen vorbereitet. Sie sollten in der Sicht der Partei- und Staatsführung zu einem überwältigenden Bekenntnis für die Politik der SED werden und mithelfen, den 40. Jahrestag der DDR vorzubereiten. Honecker & Co. erwarteten von dem Spektakel klare Unterstützung für ihren reformfeindlichen Kurs, der die aus Moskau von Gorbatschow kommenden Signale für Öffnung und Neuerung als für die DDR unnötig, ja schädlich abtat. Der Partei- und Staatschef Erich Honecker sah sich bemüßigt, immer wieder zu betonen, dass der 1961 errichtete "antifaschistische Schutzwall" ein unverbrüchlicher Garant des Friedens in Europa ist.

Um seinen Untertanen die Illusion zu nehmen, daran könne sich etwas ändern, versicherte Honecker bei einer Tagung des Komitees zur Vorbereitung der Thomas-Müntzer-Ehrung in der DDR im Januar 1989, die Mauer werde "in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind. Das ist schon erforderlich, um unsere Republik vor Räubern zu schützen. Ganz zu schweigen von denen, die gern bereit sind, Stabilität und Frieden in Europa zu zerstören". Die DDR sei durch die Maßnahmen von 1961 vor Ausplünderung und vor Drogen bewahrt worden, insgesamt habe der "antifaschistische Schutzwall" den Frieden gerettet. Der Partei- und Staatschef lenkte von den eigenen Verhältnissen ab, die zahlreiche DDR-Bewohner in die Flucht trieben, und wies mit dem Finger auf die hochgerüstete Grenze zwischen den USA und Mexiko und dass in Florida Menschen niedergeschossen wurden, als sie gegen die Rassendiskriminierung protestierten. Honeckers Aussage veranlasste zahlreiche DDR-Bewohner, die DDR zu verlassen, koste es was es wolle.

Menetekel an der Wand

Auf den 7. Oktober 1989 liefen seit Jahresbeginn diverse Wettbewerbsaufrufe und Selbstverpflichtungen hinaus. Von ihm versprachen sich Honecker und die anderen Führer des wirtschaftlich maroden und politisch angeschlagenen Landes wundersame Wirkungen. In dem ihm eigenen Parteichinesisch erklärte Erich Honecker am 5. September 1989, als in seinem Reich die Zerfallserscheinungen unübersehbar waren und ihm die Leute über Ungarn davon liefen, die DDR begehe ihren 40. Jahrestag mit einem funktionierenden, effektiven sozialistischen Gesellschaftssystem, das sich mit dem in ihm verwirklichten Menschenrechten auch an den Herausforderungen der 90-er Jahre bewähren wird. Der materielle und kulturelle Lebensstandard unseres Volkes habe ein hohes Niveau erlangt, der soziale Besitzstand sei in einem Maße gewachsen, von dem man im Gründungsjahr nur träumen konnte.

Während sich die DDR-Medien mit Jubelberichten zu übertreffen suchten, fühlten sich viele Bewohner des zweiten deutschen Staates durch eine Äußerung des damaligen ZK-Sekretärs für Wissenschaft und Kultur, Kurt Hager, provoziert. Im April 1989 hatte er gegenüber dem Hamburger Magazin STERN die Veränderungen in der Sowjetunion so kommentiert: "Die KPdSU ist bestrebt, die sozialistische Demokratie in der Sowjetunion zu vervollkommnen. Sie betrachtet, wie ich weiß, den von ihr eingeschlagenen Weg nicht als Modell für die anderen sozialistischen Länder. Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?" Mit dieser Formulierung erwiesen sich Hager und die Altherren-Riege in der SED-Führung einen Bärendienst. Der Satz entlarvte auf unnachahmliche Weise die negative Meinung der "führenden Persönlichkeiten" in der DDR gegenüber den Veränderungen in der Sowjetunion, indem die Anstrengungen des "großen Bruders" als eine Art Schönheitsreparatur abqualifiziert wurden.

Hagers unqualifizierte Absage an Glasnost und Perestroika wurde durch Abdruck im Parteiorgan Neues Deutschland am 10. April 1989 republikweit bekannt und in weiten Bevölkerungskreisen heftig diskutiert, wobei die Stasi fleißig mitschrieb und zu Gegenmaßnahmen veranlasste. Wolf Biermann ging mit Kurt Hager und anderen Politbürokraten in seiner "Ballade von den verdorbenen Greisen" hart ins Gericht. "Hey Hager, Professor Tapeten-Kutte / Ich glaub dir nichts, du verdorbener Greis / Jetzt nimmst du uns flott das Wort aus dem Munde / Mit neuen Phrasen der alte Scheiß / Du bist ja selber nicht mehr zu retten / Und rettest auch nicht dieses kranke Land. / Du hast deine Jugendträume verraten / Das Menetekel brennt an der Wand."

Der Vergleich verschaffte dem allgewaltigen Ideologen und Herrscher über Kunst, Kultur und das Verlagswesen Kurt Hager den über seinen Tod im Jahr 1998 hinaus fortlebenden Spitznamen "Tapeten-Kutte". Viele bisher linientreue Genossen und Parteilose fühlten sich provoziert und fragten in Versammlungen und Zuschriften an das Zentralkomitee der SED und den Staatsrat, warum man die Freundschaft mit der Sowjetunion so leichtfertig aufs Spiel setzt und es sich auf solch dumme Weise mit Gorbatschow verscherzt. Natürlich kam von ganz oben kein Wort des Bedauerns über diese Entgleisung, die von den sowjetischen Adressaten verwundert registriert wurde.

Feigheit als Feind der Wahrheit

Egon Krenz enthüllte einige Jahre später, dass die fragliche Formulierung nicht von Kurt Hager stammt. Dieser habe allerdings so viel Parteidisziplin gehabt, um nicht öffentlich zu sagen, dass Honecker ihm die Metapher ins Manuskript geschrieben hat. Vom ersten Mann im Staat ist bekannt, dass er gern zur Feder und zum Telefon griff und in bestimmte Zeitungsmeldungen und lange Artikel seine mehr oder weniger passenden Gedanken schrieb oder diese in den Aussagen abmilderte oder, wie im Fall der Tapete, verschärfte. Kurt Hager ging auf seinen Vergleich auf der 10. Tagung des SED-Zentralkomitees am 11. und 12. November 1989 ein. Zwei Tage nach der Öffnung der Mauer und der innerdeutschen Grenze war absehbar, dass das Regime über kurz oder lang ein Ende nimmt. Er habe über eine Fülle von Informationen aus der Wissenschaft, Volksbildung, Kultur und dem Gesundheitswesen verfügt, sie aber nicht gründlich analysiert, sagte Hager. Er sei zu feige gewesen, "eine umfassende Beurteilung der Lage, besonders in den letzten Monaten, zu fordern. Feigheit ist aber, wie es bei einem sowjetischen Schriftsteller heißt, der Feind der Wahrheit. Ich muss sagen, dass ich mich ganz offensichtlich immer weiter entfernt habe - obwohl man mir das ganz klar gesagt hat - vom täglichen, vom realen Leben, von dem, was in den Betrieben oder in den Kaufhallen oder sonst wo vor sich ging".

Kurt Hager hätte die Scharte auswetzen können, wenn er auf die im System liegenden Ursachen für die Entfremdung der Partei- und Staatsführung vom Volk und die Hintergründe "dieser unglückseligen Äußerung über die Tapeten", wie er sagte, eingegangen wäre, die natürlich sofort vom Gegner aufgegriffen wurde, "um deutlich zu machen, dass sich die SED gegen Erneuerung, gegen einen Wandel sperrt". Nicht einmal in der Stunde, da sich hohe SED-Funktionäre Asche aufs Haupt streuten, hatte der in Sachen Ideologie, Kunst, Kultur und Wissenschaft bis dato allgewaltige Politbürokrat den Mut zu sagen, dass er seinen fragwürdigen Ruf als "Tapetenkutte" Honeckers überheblichen Eingreifen in einen Text und seiner Ignoranz gegenüber den Zeichen der Zeit zu verdanken hat. Nach seiner Entmachtung bezeichnete der in Rente geschickte Hager gegenüber dem DDR-Fernsehsender Elf 99 die komfortabel eingerichtete Politbürosiedlung Wandlitz als Getto und beleidigte mit diesem unpassenden Vergleich diejenigen, welche in den nationalsozialistischen Gettos leiden und sterben mussten.

(10. Mai 2016)

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