Eifrige Sittenwächter bekamen Gegenwind
Die im Jahr 1900 ins deutsche Strafgesetzbuch aufgenommene "Lex Heinze" war nicht jedermanns Geschmack




Eifrig sind Polizisten dabei, als unsittlich eingestufte Figuren
wie die berühmte Venus von Milo einzusammeln und zu vernichten.




Der "Süddeutsche Postillon" erklärte seinen Lesern, wer alles unter die
Lex Heinze fällt: "Die Prostituierte Willig, die Zuhälter Böttcher-Karl
und Messer-Ede, die Schreiber Mommsen, Sudermann
und Hauptmann, sowie der Anstreicher Menzel". (Repros: Caspar)

Ein Berliner Zuhälter namens Gotthilf Heinze wurde um 1900 wider Willen Namensgeber eines deutschen Reichsgesetzes, mit dem die öffentliche Zurschaustellung unsittlicher Bilder und Handlungen sowie Zuhälterei und ähnliche Delikte unter Strafe gestellt wurden. Diese Lex Heinze öffnete dem Kampf der kaiserzeitlichen Zensur gegen unliebsame Bilder, Skulpturen und literarische Werke Tür und Tor und hatte einen Sturm der Entrüstung zur Folge. Gegen den schon 1892 von Kaiser Wilhelm II. initiierten, jedoch erst acht Jahre später ins Strafgesetzbuch eingefügten Sittlichkeitsparagraphen 184 erhob sich quer durch das Deutsche Reich Widerstand. Als am 6. Februar 1900 im Reichstag die Lex Heinze angenommen wurde, hatten Kunstexperten, Literaten und Satiriker eine wunderbare Möglichkeit bekommen, um Front gegen die engherzige, rückwärts gewandte Kunstpolitik und die weit verbreitete Bigotterie im Kaiserreich zu machen.

Der Paragraph 184 des Reichsstrafgesetzbuches lautete folgendermaßen: "Mit Gefängniß bis zu Einem Jahre und mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark oder mit einer dieser Strafen wird bestraft, wer 1. Unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen feilhält, verkauft, vertheilt, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder anschlägt oder sonst verbreitet, sie zum Zwecke der Verbreitung herstellt oder zu demselben Zwecke vorräthig hält, ankündigt oder anpreist; 2. Unzüchtige Schriften, Abbildungen oder Darstellungen einer Person unter sechzehn Jahren gegen Entgelt überläßt oder anbietet; 3. Gegenstände, die zu unzüchtigem Gebrauche bestimmt sind, an Orten, welche dem Publikum zugänglich sind, ausstellt oder solche Gegenstände dem Publikum ankündigt oder anpreist; 4. Öffentliche Ankündigungen erläßt, welche dazu bestimmt sind, unzüchtigen Verkehr herbeizuführen." Neben der Gefängnisstrafe konnte ein Täter auch mit dem Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte sowie mit Polizeiaufsicht bestraft werden. Ursprünglich sollten mit Gefängnisstrafen auch Theatervorstellungen, Singspiele, Gesangs- oder deklamatorische Vorträge, Schaustellungen von Personen oder ähnliche Aufführungen geahndet werden, "welche durch gröbliche Verletzung des Scham- und Sittlichkeitsgefühls Ärgernis zu erregen geeignet sind". Dieser Straftatbestand wurde nach heftiger öffentlicher Diskussion wieder fallengelassen.

Das Für und Wider des Kunst- und Schaufensterparagraphen, wie man sagte, wurde in den Medien und im Parlament heftig diskutiert, denn er verband unzulässig ganz unterschiedliche Themen. Würde man das Gesetz wortwörtlich anwenden, lautete ein wichtiges Argument, dann müssten zahlreiche als "unsittlich" eingestufte Kunstwerke aus öffentlichen und privaten Sammlungen, aber auch unter freiem Himmel stehende Skulpturen entfernt werden. Wenn man das nicht wolle, müsste man alle nackten Figuren von oben bis unten durch Bemalung oder auf anderem Wege verschleiern. So hatte man es im Vatikan getan, als der sittenstrenge Papst Pius IV. in der Sixtinischen Kapelle die von Michelangelo gemalten nackten Männer und Frauen durch Daniele da Volterra verunzieren ließ, der prompt den Spitznamen Hosenmaler erhielt.

Ganz im Geiste der Lex Heinze sollten Ladeninhaber und Galeristen Reproduktionen von Gemälden des niederländischen Barockmalers Peter Paul Rubens sowie und Botticellis berühmte "Geburt der Venus" und anderer berühmter Kunstwerke aus den Auslagen von Kunsthandlungen entfernt werden. "Über alle Zweige der deutschen Kunst wird jetzt die moralische Zuchtrute geschwungen, aber der eigentliche Übeltäter scheint doch der Dramatiker zu sein. [...] Von den erfolgreichsten deutschen Dramen des letzten Jahrzehnts würde kaum ein einziges Werk die Fallgrube des § 184 b umgehen können", beklagte der Dramatiker Hermann Sudermann das neue künstlerische Elend im Deutschen Reich.

Nach dem bekannten Spruch "Ein Lump, wer Schlechtes dabei denkt" wurden die Nachbeter des kaiserlichen Willens unter Hinweis auf die vielen Bordelle und eine weit verbreitete Zuhälterei in Berlin und anderen Städten, aber auch auf den Kampf gegen die langsam in Mode kommende Freikörperkultur und eine neue, freizügige Art der Bekleidung in die Ecke der Doppelzüngler und bigotten Moralapostel gestellt. Diese scheinheilige Haltung hatte in Berlin manche Vorläufer. Als beispielsweise Mitte des 19. Jahrhunderts die nackten Marmorfiguren auf der Schlossbrücke zur Erinnerung an die Helden der Befreiungskriege aufgestellt wurden, behaupteten miesepetrige Moralapostel, Frauen und Mädchen würden in ihrem Schamgefühl verletzt und kämen beim Anblick der nackten Helden auf eine moralisch schiefe Bahn. Was im Kontrast dazu vom Kaiser gewollt und gefördert wurde, zeigte die aus 32 marmornen Figurengruppen bestehende Siegesallee.

In der Münchner Satirezeitschrift "Simplicissimus" wird gezeigt, wie die Kunst zu Grabe getragen wird, sich ein wild gewordenes Nashorn über Bilder mit nackten Frauen und ein Schwein beim Anblick der berühmten Venus von Milo erschauert. Eine weitere Karikatur schildert unter dem Motto "Schmücke dein Heim", wie in einer gutbürgerlichen Stube alles mit Goldbronze verkitscht und bemalt wird, selbst das Gesicht des alten Großvaters, ein Nachtopf, ein Hund und die Blätter einer Zimmerpalme. Ein anderes Bild zeigt, wie eine fürstliche Dame einem ehrerbietig vor ihr stehenden Kunstprofessor zu verstehen gibt: "Diese moderne Malerei ist entsetzlich. Und dabei hat mein Mann den Leuten so oft gesagt, wie sie malen sollen!"

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