"Sie lassen dich da unten nicht sterben - du wirst noch gebraucht"

Stefan Heym schilderte in seinem Roman "Collin" aus dem Jahr 1979, wie die Stasi unbequeme DDR-Bewohner quälte



Stefan Heyms im Westen veröffentlichter Roman "Collin" wurde in
der DDR alsstaatsfeindlich eingestuft und brachte seinem
Autor den Vorwurf des Devisenvergehens ein.




Wer im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen (hier eine Aufnahme
vor der Auflösung 1989/90)gefangen gehalten wurde, war der Willkür
der Bewacher ausgeliefert, die "Geständnisse" zu erpressen versuchten.




In eine Gedenkstätte umgewandelt, zieht die ehemalige Untersuchungshaftanstalt
des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zahlreiche Besucher aus aller Welt an.




Hier ist alles noch original erhalten, selbst die langen Gänge und die
Gefängniszellen haben sogar noch ihren Geruch beibehalten.
(Fotos/Repros: Caspar)


Der DDR-Schriftsteller Stefan Heym war ein unbequemer Mann, einer mit Grundsätzen und viel Mut, einer, der sich nicht einschüchtern ließ. Am 4. November 1989 rief er der Menge auf dem Berliner Alexanderplatz zu: "Liebe Freunde, Mitbürger, es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung! Vor noch nicht vier Wochen, die schön gezimmerte Tribüne hier um die Ecke, mit dem Vorbeimarsch, dem bestellten, vor Erhabenen! Und heute! Heute hier, die Ihr Euch aus eigenem freien Willen versammelt habt, für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist. [...] Der Sozialismus - nicht der Stalinsche, der richtige -, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes!"

In seinem zehn Jahre vor diesem legendären Auftritt kurz vor dem Fall der Berliner und der innerdeutschen Mauer veröffentlichten Roman "Collin" geht es um den berühmten DDR-Schriftsteller und Staatspreisträger Hans Collin. Dessen Schriften hat man als so bedeutsam erachtet, dass sie in den Schulen des zweiten deutschen States behandelt wurden. Mit einer auch im Westen umjubelten Chansonette verheiratet, hat Collin so etwas wie einen Herzinfarkt erlitten, doch kann sich keiner die Ursachen erklären, denn organisch ist alles in Ordnung. Im Regierungskrankenhaus an der Berliner Scharnhorststraße, in das er eingeliefert wurde, wird er von den besten Ärzten umsorgt. Eine von ihnen hat ein Verhältnis mit dem um Jahre jüngeren, unangepassten und aufsässigen Enkel des Stasi-Chefs Urack, der eines Tages in den Westen flieht. Urack wird zeitgleich mit Collin in dem Krankenhaus der DDR-Elite behandelt, in einer Art Zauberberg des zweiten deutschen Staates. Die beiden Männer sehen sich und belauern sich, sie haben eine Wette zu laufen, wer wem Blumen ans Grab legt, wer also als erster stirbt. Am Ende des Romans stirbt Collin bei der Arbeit an seinen Memoiren, in denen er schonungslos mit sich und seinem sozialistischen Staat abrechnen will, ohne Furcht und Rücksicht auf irgendwen und irgendwas. Wie es Urack ergeht, der sich insgeheim Zugang zu dem halbfertigen Manuskript von Collins Memoiren verschafft hat und es mit wachsender Wut liest, bleibt unklar. Der Todkranke verdämmert sein Leben in einer Stasi-Klinik, die besser als das Regierungskrankenhaus zu kontrollieren ist.

Nach Stalinscher Manier

Collin, der mit einer Schreibblockade belastete Autor, leidet sichtlich darunter, dass er versagt hat, als sein Lebensretter im Spanischen Bürgerkrieg Havelka verhaftet und vor ein DDR-Gericht gezerrt wird, und er, der prominente Künstler, nichts zur Verteidigung dieses kommunistischen Altgenossen sagt. Die Staatsmacht geht ihren Gegnern und solchen, die sie dafür hält, nach Stalinscher Manier unbarmherzig um. Collin hat Angst vor Sanktionen, wenn er seine Stimme erhebt, und so lastet sein Versagen schwer auf ihn, macht ihn zum gesundheitlichen Wrack. Heym beschreibt die Zeit, in der der Roman handelt, als krank. Gemeint ist die Ulbricht- und Honeckerzeit, in der alles zu ersticken droht und eine dunkle Drohung über aller Häupter liegt. "Die Zeit scheint selber krank: die kranke Psyche als politischer Faktor, der Infarkt als gesellschaftliches Phänomen; der große Gesellschaftsroman, heute und hier, kann nur der Roman einer Krankheit sein", schreibt Heym. Sein Held Collin macht sich, halbwegs genesen nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus und befreit von seiner Blockade; an die Arbeit. Von ihr verspricht er sich Besserung seines Zustandes, an ihr zerbricht er aber.

Selbstverständlich durfte dieser von den DDR-Behörden als staatsfeindlich eingestufte, mit kritischen Kommentaren zur Innen-, Kultur- und Außenpolitik gespickte Roman im Arbeiter-Bauern-Staat nicht erscheinen wie andere dort verbotene Werke von Stefan Heym auch. Dieser äußert sich im letzten Kapitel seiner Memoiren "Nachruf" (München 1988) ausführlich über "Collin" und wie ihm die DDR-Behörden Schwierigkeiten bereitet haben, weil er das Buch hinter deren Rücken im Westen hat erscheinen lassen. Heym wurde wegen nicht erteilter Genehmigung durch die amtliche Zulassungsstelle, das so genannte Büro für Urheberrechte, ein Strick gedreht. Und so bekam er ein Strafverfahren wegen Devisenvergehens an den Hals, wird zu einer Geldstrafe von 9000 Mark (Ost) verurteilt. Der dazu benutzte und von Heym erwähnte § 219 des DDR-Strafgesetzbuches lautete so: "Ungesetzliche Verbindungsaufnahme. Wer zu Organisationen, Einrichtungen, Gruppen oder Personen, die sich eine gegen die staatliche Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik gerichtete Tätigkeit zum Ziele setzen, in Kenntnis dieser Ziele oder Tätigkeit in Verbindung tritt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung bestraft." Durch ein Gesetz vom 28. Juni 1979, als "Collin" erschienen war, erhielt der § 219 folgende erweiterte und verschärfte Fassung: "Wer zu Organisationen, Einrichtungen oder Personen, die sich eine gegen die staatliche Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik gerichtete Tätigkeit zum Ziele setzen, in Kenntnis dieser Ziele oder Tätigkeit in Verbindung tritt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, Verurteilung auf Bewährung oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft 1. wer als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik Nachrichten, die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden, im Ausland verbreitet oder verbreiten lässt oder zu diesem Zweck Aufzeichnungen herstellt oder herstellen lässt; 2. wer Schriften, Manuskripte oder andere Materialien, die geeignet sind, den Interessen der Deutschen Demokratischen Republik zu schaden, unter Umgehung von Rechtsvorschriften an Organisationen, Einrichtungen oder Personen im Ausland übergibt oder übergeben lässt. (3) Der Versuch ist im Falle des Absatzes 2 Ziffer 2 strafbar."

Gerichtsverfahren als Farce

In "Collin" wird ein Prozess gegen das ehemalige Politbüromitglied Faber beschrieben. Ihm wird vorgeworfen, den amtierenden Parteichef stürzen zu wollen, mit dem kein anderer als Walter Ulbricht gemeint sein kann. Das Verfahren mit all seinen politischen Vorgaben und juristischen Absprachen vor ausgewähltem Publikum ist eine einzige Farce, und auch dieses Kapitel muss den Mächtigen in der DDR und insbesondere Mielke & Co. sauer aufgestoßen sein. Ebenso Beschreibungen über die bedrückenden Zustände im Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Havelka klärt dem offenbar ahnungslosen Collin, was sich hinter diesem Namen verbirgt. "Da ist die Endstation der Straßenbahn. Dort geht es rechts ab, dann kommt ein Schlagbaum, dahinter ein paar Villen, und dann eine Mauer. Hinter der Mauer ein Bau, früher mal ein Lagerhaus von Bolle, Bolles Milch und Butter und Käse, der Berliner kauft bei Bolle, Lagerhaus, Kühlhaus, alles sehr solide, wie man zu der Zeit eben baute. Nur die Mauer ist neu, die kam hinzu, nachdem statt Milch dort die Menschen verwahrt wurden. [...] Havelka rieb sich die Stirn. Die Bilderstiegen auf in wirrer Reihe, der beklemmende Modergeruch war wieder um ihn, während er sprach, das ewige Halbdunkel der Haftzellen im Keller, die Feuchtigkeit, der Widerhall, mit dem die eisernen Türen ins Schloss fielen, das plötzliche Geblaff der Polizeihunde. [...] Da ist nur die hölzerne Pritsche, sonst nichts. Kein Krug, kein Becher, keine Schüssel, kein Handtuch, all das wird dir einmal am Tag hereingereicht, einmal am Tag auch - dann erkennst du, dass es Abend geworden ist - ein stinkender Strohsack und, je nach Jahreszeit, ein oder zwei dünne Baumwolldecken. Ach ja, und der Kübel. Der gehört allerdings, wie die Pritsche, zum permanenten Mobiliar; nur leider kannst du nicht auf dem Ding sitzen, dafür ist er zu hoch und die Kante zu scharf. Du musst hinaufklettern und dich festhalten und irgendwie balancieren, damit du dir den Hintern nicht zerschneidest, und wenn du trotz dieser Akrobatik noch kacken kannst, spritzt dir die Jauche von unten zwischen die Beine."

Erpresste Geständnisse

Havelka registriert im Roman bei Hans Collin, seinem zweifelndem und verzweifelndem Gegenüber, Ekel und bröckelnde Abwehr, um dann mit gleichmütiger Weise fortzufahren. "Das schlimmste aber ist der anonyme Wille, dem du ausgeliefert bist. Sie entscheiden, wann du aus dem Schlaf gerissen wirst und wie oft, sie entscheiden, wann die nackte, trübe Birne in der engen Zelle an- und ausgeht, sie entscheiden, wann du atmest, den es gibt ja nicht genug Sauerstoff da unten für deine Lungen, kein Fenster, das sich aufstoßen ließe, nur ein faustgroßes Loch, durch das sie gelegentlich Luft zu dir hinabpumpen, und oft genug glaubst du, sie lassen dich ersticken, und du willst schreien, aber du schreist nicht, denn dein Schreien würde den spärlichen Sauerstoffvorrat noch weiter verringern und du weißt ja nicht, wann sie dir wieder Luft geben werden, und du spürst, wie du immer apathischer wirst, und manchmal pumpen sie die Luft auch zu spät in die Zelle, und dann drückt es dir das Herz ab. [...] Sie lassen dich da unten nicht sterben. Sie brauchen dich nämlich noch. Just wenn du am Verrecken bist, hörst du, wie sie die Tür aufschließen, und es kommt einer mit einer Schachtel in der Hand und füttern dich mit Pillen - die Behörde stützt dir den Kreislauf. Wie lange hält einer das aus? Zwei Tage? Zwei Wochen? Zwei Monate".

Eine Art Erlösung gibt es, wenn der Gefangene alles gesteht, was man ihm vorwirft, und sich als reuiger Mensch gibt. Auch während der Inquisition ließen die Folterknechte schon vor Jahrhunderten bei einer solchen Erklärung von ihren gequälten Gefangenen ab, doch war ihr Tod auf dem Scheiterhaufen oder am Galgen beschlossene Sache. Dem Ministerium für Staatssicherheit haben die Enthüllungen in "Collin" nicht gefallen. Intern wurde nach Quellen gefahndet, die Stefan Heym beim Schreiben zur Verfügung gestanden haben. Doch war der Arm des Ministers Mielke nicht lang genug, um die Veröffentlichung im Westen zu verhindern. Da er eine international bekannte Persönlichkeit war, konnte man ihn nicht in ein Loch ähnlich dem stecken, in dem Havelka zwischen Leben und Tod schwebte.

27. Juni 2016

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