Luden, Schränker, Ringvereine
Die Gegend um den Schlesischen Bahnhof war vor hundert Jahren ein hochgefährliches Pflaster / Berliner Kriminal Theater lädt zum Gruseln ein




Wer mit dem "Grünen Minna" genannten Gefängniswagen zum Polizeipräsidium
gebracht wurde, durfte sich allgemeiner Aufmerksamkeit sicher sein.




Peter Lorre in der Rolle des von der Polizei und den Ringvereinen gejagten Kindermörders.



Die von Heinrich Zille gezeichneten Zeitungsverkäufer hatten
Tag für Tag Morde, Raubzüge, Brände und andere Katastrophen
zu vermelden und fanden reißenden Absatz. (Repros: Caspar)

Die Berliner Kriminalgeschichte kennt unzählige Morde, Überfälle, Diebstähle, Betrügereien und andere Verbrechen, und die Zeitungen waren voll mit sensationell aufgemachten Berichten über sie und die Täter. Die Berliner Kriminalpolizei war im frühen 20. Jahrhundert auf neuestem Stand, sie bediente sich ungewöhnlicher Methoden bei der Verbrechensbekämpfung und -aufklärung, hatte überall ihre Spitzel und Zuträger postiert und galt den Verfolgungsbehörden anderer Länder als Vorbild. Polizeibeamte pflegten sich zu verkleiden, um unerkannt ermitteln zu können. In einer Anweisung wird ausdrücklich verlangt, dass die Schuhe dem Kostüm als Droschkenkutscher, Hausierer, Dienstmann oder Portier angepasst sein sollen, "denn geriebene Verbrecher pflegen, wenn sie merken, dass sie beobachtet werden, und wenn sie vermuten, dass der Betreffende verkleidet sei, zunächst auf die Schuhe der betreffenden Person zu sehen". Das war übrigens auch in DDR-Zeiten so, wo man bei allen möglichen Veranstaltungen und Zusammenkünften Stasi-Leute und Polizisten in Zivil unschwer an politisch korrektem Haarschnitt, frisch aus der Tüte stammenden Anoraks und geputzten schwarzen Halbschuhen erkennen konnte.

Neben dem Scheunenviertel nördlich des Alexanderplatzes gehörte der Kiez rund um den Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof) im frühen 20. Jahrhundert zu den besonders verrufenen Gegenden der Reichshauptstadt. Der Gerichtsreporter Moritz Goldstein schrieb 1929, hinter der Jannowitzbrücke beginne die Unterwelt, die sich von der Welt der Bürger "nur durch seine unentrinnbare Trostlosigkeit unterscheidet". Die Kriminalität hatte hier Ausmaße wie kaum in einem anderen Stadtbezirk angenommen. Zahllose Taschendiebe, Abzocker und Betrüger waren in der Gegend unterwegs, hier blühte die von Luden, also Zuhältern, überwachte und gesteuerte Prostitution. Wer sich, aus besseren Teilen der Stadt kommend, einmal richtig gruseln wollte und wem der Sinn nach Nervenkitzel stand, fand am Schlesischen Bahnhof dazu reichlich Gelegenheit. Für die Ordnungshüter war der Kiez so gefährlich, dass sicherheitshalber immer zwei Polizisten Streife liefen.

Über Jahre verfolgte die Berliner Kripo ungeklärte Mordfälle, doch erst 1921 konnte sie einen gewissen Karl Großmann dingfest machen. Der "Mörder vom Schlesischen Bahnhof" soll mehr als 20 Frauen umgebracht haben. Der Sohn eines Lumpensammlers war gelernter Fleischer, arbeitete aber auch als Hausierer und verbüßte mehrere Jahre im Gefängnis. Am Schlesischen Bahnhof besaß er einen Wurststand, wo er vermutlich Prostituierte, allein reisende Frauen und andere Personen ansprach und zu sich nach Haus einlud. Nach dem Ersten Weltkrieg, als in Berlin alles drunter und drüber ging und die Polizei auch zahlreiche politische Morde aufklären musste, fand man im Engelbecken und im Luisenstädtischen Kanal nicht weniger als 23 zerstückelte Frauenleichen. Großmann wurde am 21. August 1921 auf frischer Tat in seiner Wohnung bei seinem letzten Opfer gefasst. Das Gericht konnte ihm drei Morde zuordnen, doch dürfte die wirkliche Zahl erheblich höher gewesen sein. Vor dem Ende der Hauptverhandlung erhängte sich der Angeklagte am 5. Juli 1922 in seiner Zelle.

Zwar waren damit die Akten über eine der schrecklichsten Mordserien in Berlin geschlossen, aber die Verbrechen gingen weiter. Neben Einzeltätern traten die so genannten Ringvereine auf den Plan. 1890 war in Berlin der Reichsverein ehemaliger Strafgefangener gegründet worden. Ursprünglich zur Unterstützung der Familien von Personen gebildet, die im Gefängnis saßen, nahmen die Hilfsorganisationen mit Vereinsstatuten und eigenem Ehrenkodex nach und nach Merkmale der organisierten Kriminalität an. Auf bewaffnete Überfälle, Prostitution, Einbrüche, Erpressungen, Alkoholschmuggel und andere Verbrechen spezialisiert, lieferten sich die Ringvereine mit der Polizei regelrechte Schlachten. Eisernes Schweigen gegenüber der Ordnungsmacht war in diesen Kreisen oberstes Gebot und half, schwierige Zeiten zu überstehen. Wenn es darauf ankam, gaben sich die Vereinsbrüder, die sich an einem Siegelring erkannten, Alibis und engagierten teure Anwälte.

Nach außen gaben sich die Ringvereine den Anschein ehrenwerter Gesellschaften. Führende Mitglieder prunkten mit teuren Autos, Diners in exklusiven Restaurants und viel Schmuck auf und genossen bei manchen Berlinern eine gewisse Sympathie, weil sie, wie der legendäre Robin Hood, angeblich die Reichen schröpften und den Armen halfen. In dem Kriminalfilm "M - Eine Stadt sucht einen Mörder" von 1931 bemühte sich der Regisseur Fritz Lang um größtmögliche Authentizität, ja er ließ sogar echte "schwere Jungs" als Komparsen mitwirken. Da die Polizei bei der Fahndung nach dem Kindermörder der Halb- und Unterwelt zu nahe kommt und sie bei der "Arbeit" stört, machen sich die Filmganoven ebenfalls auf die Suche. Mit einem weißen M auf der Schulter gezeichnet, wird der von Peter Lorre gespielte Kindermörder gefasst. Angeführt von Schränker (Gustav Gründgens) gelingt es den Ringvereinen, der Polizei zuvorzukommen und den Kindermörder zu fassen. Beim Schauprozess in einer Fabrik geht die gestammelte Rechtfertigung des Verbrechers im Gelächter der Ganoven untergehen. Das rechtzeitige Eintreffen der Polizei verhindert, dass er gelyncht wird. Der Kinobesucher darf sich sicher sein, dass er von einem ordentlichen Gericht zum Tode verurteilt und hingerichtet wird.

Die Nazis schrieben die unbarmherzige Verfolgung und Bestrafung von Verbrechern, Dieben und Betrügern auf ihre Fahnen, gaben sich als konsequente Beschützer von Recht und Ordnung aus und ernteten dafür viel Beifall. Dass aber die NS-Diktatur der Inbegriff von Rechtsbeugung war und politische Morde sowie rassistische Ausgrenzung und Verfolgung an der Tagesordnung waren, haben die meisten Volksgenossen nicht wissen wollen. Sie schauten zur Seite, als lange Kolonnen von Juden durch die Straßen auf dem Weg in die Vernichtungslager zogen, und sie fanden auch nichts dabei, in die Wohnungen der Deportierten zu ziehen und ihren Hausrat zu benutzen.

Das Berliner Kriminal Theater im alten Umspannwerk an der Palisadenstraße, einige hundert Meter vom Ostbahnhof und der Karl-Marx-Allee entfernt, lädt zum Gruseln ein, wenn es Kriminalstücke aus der Feder von Agatha Christie, Umberto Eco, Sebastian Fitzek, Ira Levin und vielen anderen mit großem Erfolg zur Aufführung bringt und damit auch daran erinnert, wer vor langer Zeit in dieser nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend veränderten Gegend das Sagen hatte.

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