Massenmord in der besetzten Sowjetunion

Topographie des Terrors erinnert an die Verbrechen der SS, Polizei und Wehrmacht zwischen Ostsee und Schwarzem Meer



Die Ausstellung "Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und
Schwarzem Meer 1941-1944" mit Erklärungen in deutscher und englischer Sprache ist
täglich von 10 bis 20 Uhr geöffnet, der Eintritt ist frei. Es erschien ein
umfangreicher Katalog (14 Euro), und es wird ein bis März 2017 laufendes
Vortragsprogramm angeboten. Weitere Informationen unter ww.topographie.de.




Zum 75. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion zeigt
die Topographie des Terrors eine Ausstellung über die Massenmorde zwischen
Ostsee und Schwarzem Meer.




Der "Kommissarbefehl" legte fest, dass die sowjetischen Politoffiziere und weitere Gefangene
nicht den Kriegsgesetzen unterliegen, sondern als "unerwünschte Elemente"
sofort ermordet werden sollen.




In einer Zeitung für die deutsche Polizei ist nur von der Jagd auf Banditen die Rede, der
Massenmord an Russen, Ukrainern und anderen Menschen war ein streng
gehütetes Geheimnis, das im Deutschen Reich nicht unbekannt war.



Den wenigsten SS-Männern, hier bei Julfeier genannten Weihnachtsfeier Ende 1943
im KZ Neuengamme, ist nach dem Zweiten Weltkrieg etwas geschehen. (Fotos/Repros: Caspar)

Die Topographie des Terrors an der Niederkirchnerstraße 8 im Berliner Bezirk Kreuzberg widmet eine bis zum 19. März 2017 laufende Ausstellung den Massenerschießungen der deutschen Einsatzgruppen, der Wehrmacht und Polizeieinheiten in der Sowjetunion zwischen 1941 und 1944. Anlass der erschütternden Dokumentation über den Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, so der Untertitel, ist der 75. Jahrestag des Überfalls des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Mit zahlreichen Fotos und Dokumenten sowie Berichten von Überlebenden schildert die Ausstellung, wie und wo mehr als zwei Millionen Juden sowie etwa 30 000 Roma und 17 000 Patienten psychiatrischer Anstalten erschossen, erhängte und in sogenannten Gaswagen erstickt und anschließend in Massengräbern verscharrt wurden.

Ausgestellt ist unter anderem ein Faksimile des berüchtigten Kommissarbefehls vom 6. Juni 1941 zur Ermordung von Politkommissaren der Roten Armee. Offiziell hieß das als Geheime Kommandosache eingestufte Dokument "Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare". Gegen jedes Kriegs- und Völkerrecht sollten die für die politische Ausrichtung der Roten Armee eingesetzten Parteimitglieder nicht wie Kriegsgefangene behandelt, sondern bei der Gefangennahme sofort erschossen werden. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), Wilhelm Keitel, berichtete im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1945/6, dass Hitler fünf Wochen vor dem Überfall auf die die Sowjetunion das OKW gedrängt habe, die politischen Kommissare "durch das Heer zu erledigen". Einwände von dort, das widerspräche "soldatischen Auffassungen vom ritterlichen Krieg", wischte Keitel in Übereinstimmung mit Hitler vom Tisch, denn es handele sich bei den Tötungen um die Vernichtung einer Weltanschauung. "Diese Kommissare werden nicht als Soldaten anerkannt; der für die Kriegsgefangenen völkerrechtlich geltende Schutz findet auf sie keine Anwendung. Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen." Dies sollte, um Aufsehen zu vermeiden, in den Konzentrations- und Vernichtungslagern geschehen. Historiker gehen davon aus, dass dort bis Ende Juli 1942 etwa 38 000 als Kommissare bezeichnete Kriegsgefangene ermordet wurden. Zu den der so genannten Sonderbehandlung zugeführten Personen wurden außer den Politkommissaren auch Funktionäre der Kommunistischen Internationale sowie Parteimitglieder, Angehörige der Intelligenz, Juden sowie unheilbar Kranke gerechnet, so die damalige Diktion.

Das eigene Grab geschaufelt

Die Ausstellung zeigt mit erschütternden Fotos, wie Menschen ihr eigenes Grab schaufeln mussten und wie sie mit Gewehrsalven und Pistolenschüssen ermordet wurden. "Ein SS-Mann lief dann den Graben entlang und streute mit der Maschinen-Pistole hinein", heißt es in einem in der Ausstellung gezeigten Bericht. "Ohne Rücksicht darauf, ob alle tot waren, wurde dann die zweite Lage Juden hineingeworfen. Die Prozedur wurde solange wiederholt, bis der Graben bis zum Rande hinauf angefüllt war. Dann wurde der Graben zugedeckt, (ob alle tot waren oder nicht, war dabei gleichgültig." Das Dokument erwähnt eine "andere Hinrichtungsart", bei der Dutzende auf Lastwagen herangefahrene Juden an Bäumen erhängt wurden. Da sich die SS-Leute, Polizisten und Soldaten die Hände nicht schmutzig machen wollten, mussten Gefangene die Leichen "beseitigen" und wurden anschließend, da sie lästige Zeugen waren, ebenfalls ermordet. Nur selten gelang es Menschen, sich aus den Gruben zu befreien. Jahre später konnten sie über die Massenmorde berichten.

Die Ausstellung bietet Erklärungen zu der Frage an, was Deutsche dazu brachte, sich an den Massenmorden zu beteiligen und wie SS-Leute, die zögerten, unter Druck gesetzt wurden, Härte zu zeigen und mitzumachen. Gezeigt wird, wer die Täter waren und was aus ihnen nach dem Ende des NS-Reiches und des Zweiten Weltkriegs wurde. An einer Bilderwand mit Polizeifotos aus den Jahren nach 1945 von SS-Männern, Polizisten, Wehrmachtsangehörigen und Sicherheitsbeamten wird gezeigt, dass diese in den westlichen Besatzungszonen und der jungen Bundesrepublik Deutschland zwar angeklagt und verurteilt wurden, aber schon nach wenigen Jahren wider frei kamen und sich eine neuen bürgerliche Existenz aufbauen konnten. Kritik am Vorgehen der Alliierten und ihrer Gerichte wurde von kirchlichen Kreisen erhoben, doch nahmen auch Juristen auf die Verfahren Einfluss, die schon in den Nürnberger Prozessen Hauptkriegsverbrecher verteidigt hatten. Im Zeichen des Kalten Kriegs mühte sich die Regierung der jungen Bundesrepublik, dass Gnadengesuche positiv bearbeitet wurden. So kam es, dass zahlreiche eigentlich zu hohen Zuchthausstrafen verurteilte NS-Verbrecher bis 1958 auf freien Fuß kamen.

Das Massaker von Babi Jar

Dass es für Naziverbrecher Hilfsorganisationen gab und die Gerichtsverfahren in Teilen der westdeutschen Bevölkerung als ungerecht und als Ausdruck von "Siegerjustiz" empfunden wurde zeigt die Dokumentation ebenso wie sie die Mühen bei der historischen Aufarbeitung und dem Bau von Gedenkstätten schildert. Dass Juden dem Massenmord in der besetzten Sowjetunion zum Opfer fielen, wurde in der späten, von Antisemitismus geprägten Stalinzeit ungern erwähnt. Wenn Gedenksteine errichtet wurden, hat man sie "sowjetische Patrioten" gewidmet und damit den rassistischen Hintergrund der Massenmorde vertuscht.

Anhand historischer Dokumente und Fotografien beschreibt die Ausstellung die Entwicklung des Massenmords und die Aufarbeitung dieser Verbrechen nach 1945. Erstmals sind auf einer Karte Orte der umfangreichsten Erschießungen verzeichnet, an Hörstationen und ausgelegten Büchern kann man sich über die Mordaktionen in Kiew, Riga und an anderen Orten informieren. Gezeigt wird, wie die Schlucht von Babi Jar bei Kiew vor genau 75 Jahren zum der Schauplatz des größten einzelnen Massakers an über 33 000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern im Rahmen des gegen die Sowjetunion geführten Vernichtungskrieges führt wurde. Als sich die Deutschen aus der Sowjetunion zurückweichen mussten, taten Sondereinheiten alles, um die Spuren der Massenmorde zu vertuschen. Auch darüber berichtet die Ausstellung. Sie schildert darüber hinaus anhand von Fotografien die Ermordung von etwa 1.500 jüdischen Kindern, Frauen und Männern am 14. Oktober 1942 im ostpolnischen Mizocz (heute Ukraine). Das Beispiel zeigt, in welchen Schritten die systematischen Vernichtung der jüdischen Gemeinden vollzogen wurden und wie das Zusammenspiel der SS-Einsatzgruppen und der anderen Täter in mit örtlichen Verantwortungsträgern und der NS-Führung in Berlin ausgesehen hat.

Erinnerungen von Hans Rosenthal

Dass den einen oder anderen Augenzeugen der Massenmorde das schlechte Gewissen plagte, zeigt das Beispiel des ehemaligen Polizeibeamten Gustav Hille, der "im Osteinsatz" fotografische Aufnahmen von den Juden-Massakern in der Ukraine gemacht hat. Er tat dies in der Absicht, diese grauenhaften Vorkommnisse zu dokumentieren und gegebenenfalls davon Gebrauch zu machen, obwohl das unter dem Hitlerregime mit den schwersten Strafen bedroht war, wie in einem Schreiben von Anfang 1946 des Landrats in Hof (Saale) betont wird. Hille bat um Hilfe bei der Bergung eines eisernen Kasten mit den Fotos, "damit sie dem Gerichtshof der Vereinten Nationen [in Nürnberg, H. C.] zur Verfügung gestellt werden können".

Zu Wort kommt in der sehenswerten Sonderausstellung der Topographie des Terrors der Holocaust-Überlebende Hans Rosenthal, der nach 1945 in Westberlin als Rundfunk- und Fernsehmoderator weithin bekannt wurde. Er konnte in Berlin untertauchen, doch sein Bruder Gert wurde nach Riga ermordet. "Als ich ein letztes Mal ins Waisenhaus ging, um Abschied zu nehmen, hatte Gert von seinen Ersparnissen fünfzig Postkarten gekauft. Er hielt sie stolz in der Hand und zeigte sie mir: ,Hansi', sagte er, auf diesen Postkarten steht schon deine Adresse. Ich habe sie alle vorbereitet. Alle zwei Tage werde ich dir schreiben, wo ich bin und wie es mir geht.' Ich habe nicht eine dieser Postkarten bekommen. Und ich habe Gert nie wiedergesehen", erinnerte sich Rosenthal an seinen Bruder.

29. September 2016

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