Zwerg Allwissend und der rote Koffer

Erich Mielkes Ausspruch "Ich liebe doch alle, alle Menschen" regte 1989 sogar die eigenen Leute auf



Die Altherrenriege mit Honecker und Stoph (3. und 4. von links) sowie
Mittag und Mielke (mit Sonnenbrille, 2. und 3. von rechts) nimmt
die Huldigungen ihrer Untertanen entgegen.




Der geheimnisvolle rote Koffer, mit dessen Inhalt Mielke seinen Chef
Honecker hätte erpressen können, ist in den ehemaligen
Amtsräumen des Ministers des Ministeriums ausgestellt.




Von diesem Schreibtisch und mit dieser Telefonanlage steuerte
"Zwerg Allwissend" sein aus unzähligen hauptamtlichen und
informellen Spitzeln gebildetes Imperium.




Während Mielke in der Volkskammer sprach, ratterten in seinem Ministerium
die Papierhäcksler, doch zum Glück wurde vieles nicht vernichtet.




Die Sicherung der Stasiakten war im Herbst 1989 und danach ein großes
Anliegen der Bürgerbewegung, die schon bald ein Schutzgesetz für die
Hinterlassenschaften des DDR-Geheimdienstes und eine
Aufarbeitungsbehörde durchsetzte. (Fotos/Repro: Caspar)

Unglaublich, was alles nach dem traurigen Abgang von Erich Honecker und seiner engsten Genossen aus dem innersten Zirkel des Zentralkomitees ans Licht kam! Hatte der gesundheitlich angeschlagene Politgreis wirklich so viel Macht, dass Spitzenleute vor ihm kuschten, oder war es nicht eher so, dass sie ihren Chef gewähren ließen. Einige Politbürokraten sahen sehr wohl, dass der "Supertanker DDR" über kurz oder lang auf einen mächtigen Eisberg fährt und zerschellt, beließen es aber bei Denkschriften und vorsichtigen Einwänden bei Besprechungen mit Honecker. Offenbar verfügte der SED- und Staatschef auch noch 1989 über so viel Einfluss, dass sich seine engsten Kampfgenossen erst zum Aufstand entschlossen, als er schon angeschlagen und nicht mehr zu halten war. Andersdenkende, auch solche in der Partei, wurden diszipliniert und aus ihren Ämtern entfernt worden, sie verloren ihrer Privilegien und verschwanden in untergeordneten Arbeitsstellen, wenn sie nicht gleich ins Gefängnis kamen. Im Rückblick erklärte das Politbüromitglied Werner Krolikowski, der genaue Kenntnis über die wirtschaftliche Misere in der DDR hatte, zu der Frage, warum er im Politbüro des ZK der SED nicht mit aller Konsequenz konfrontativ gegen Honecker und die Seinen aufgetreten ist, er habe das zum rechten erfolgversprechenden Zeitpunkt tun wollen, "weil mein Platz sonst zugunsten von Honecker besetzt worden würde. Hundertemal wollte ich auftreten, das ist die Wahrheit, und heute sage ich, es war falsch, dies nicht zu tun: ich bedaure dies, ja ich bereue es zutiefst".

Werner Krolikowski hielt sich mit seiner Kritik bedeckt und trat mit ihr erst hervor, als das SED-Regime offiziell abgewirtschaftet hatte. Zu seiner Verteidigung in einem Gerichtsverfahren legte er interne Schreiben vor, in denen er mit Honecker, Mittag, Herrmann und anderen abrechnet. "Seit Gorbatschow war Honecker in seinen Tiraden des Hasses gegen die Entwicklung in der Sowjetunion überhaupt nicht mehr zu ertragen - sie waren in jeder Sitzung des Politbüros zu hören. Er war in keiner Hinsicht lernfähig; er hielt sich offenbar für den größten lebenden Führer des internationalen Sozialismus, für einen der Größten von Weltgeltung - überhaupt - so groß war seine Eitelkeit, um so tiefer war sein Fall."

Schwindel und Schönfärberei

Jeder wusste im engen Führungszirkel, dass mit dem antifaschistischen Widerstandskämpfer Honecker, der in der Naziherrschaft aus politischen Gründen im Zuchthaus Brandenburg gefangen gehalten wurde, etwas nicht stimmt. Krolikowski stellte schon 1983 in einer "Notiz zur inneren Lage" himmelschreiende Gegensätze zwischen dem fest, was Honecker verkündet, und dem, was wirklich ist. In der Statistik werde im Politbüro (PB) durch Schwindel weiterhin Schönfärberei betrieben, die direkt von EH (Erich Honecker) und GM (Günter Mittag) angeordnet sei. "Die Lage im PB hat sich in den letzten Monaten in keinerlei Hinsicht zum Guten verändert. EH schaltet und waltet wie er will. Es gibt keine echte Kollektivität. Ehrliche Analysen über die innere Lage in der DDR werden schon jahrelang im PB nicht mehr behandelt und nicht zum Gegenstand einer kollektiven Aussprache und Beschlussfassung gemacht. Wenn sich im Keim einer anderen Meinung zeigt, wird er bereits übergangen oder zurückgewiesen. Praktisch arbeitet das PB unter dem Druck von EH, dessen Alleinmeinung in allen Fragen und Belangen durchgesetzt wird." Die Mehrheit der Mitglieder und Kandidaten im Politbüro rede Honecker nach dem Mund und erwecke den Anschein, so Krolikowski, dass sie mit seiner Handlungsweise recht zufrieden ist, preußische Disziplin und Liebedienerei würden im Politbüro "jeden Tag neue Triumphe" feiern.

Wenn Honecker gewusst hätte, was Krolikowski und einige andere aus der Führungsetage über ihn dachten und in geheimen Papieren festhielten, wäre er sicher mit eiserner Faust dazwischen gegangen und hätte Wege gefunden, seine innerparteilichen Gegner loszuwerden. Jedem waren Fälle bekannt, wie nach sowjetischem Muster gestandene Antifaschisten und/oder der Partei treu ergebene Genossen von einer Stunde zur anderen ihrer Posten enthoben und in die Wüste geschickt wurden. Wenn sie dann einen untergeordneten Posten in einem Archiv oder einem wissenschaftlichen Institut erhielten, konnten sie noch von Glück sagen. Manch einer landete im Gefängnis oder, was nicht minder schlimm war, in der Psychiatrie.

Leichen im Keller

Unangreifbar war über Jahrzehnte hinweg offenbar auch "Zwerg Allwissend", wie man hinter vorgehaltener Hand Stasi-Minister Mielke nannte. Vor dem grobschlächtigen, cholerischen Mann hatten selbst seine eigenen Generale Angst. Mielke besaß einen "roten Koffer" mit wenig schmeichelhaften Aufzeichnungen über Honeckers Haftzeit im Zuchthaus Brandenburg während der Nazizeit darin. Angeblich war der spätere SED- und Staatschef nicht der unerschrockene, heldenhafte antifaschistische Widerstandskämpfer, als der er sich nach dem Ende der Nazizeit und in seiner Autobiographie von 1981 "Aus meinem Leben" ausgab. Als Herr über ein Heer von hauptamtlichen und informellen Mitarbeitern nutzte Mielke persönliche Dossiers über Honecker und andere Personen als Druckmittel, denn mancher von ihnen hatte "Leichen im Keller", hatte also Dinge zu verbergen, die ihm Schwierigkeiten machen konnten, wenn sie an die Öffentlichkeit gekommen wären.

Vielleicht klärt das die unerschütterliche Stellung, die der ebenso verschlagene wie brutale Geheimdienstchef in der SED-Hierarchie inne hatte und weshalb er so viel Angst und Schrecken verbreiten konnte. Was der von ökonomischen Kenntnissen völlig unbeleckte Honecker hingegen an seinem Wirtschaftssekretär und Jagdfreund Günter Mittag und dem nicht gerade von Intelligenz und Weitsicht geschlagenen Medienchef Joachim Herrmann fand und warum er sich nicht bessere Berater zulegte, ist nicht klar. Die Auswahl seiner engsten Mitarbeiter hat sicher etwas mit dem zu tun, dass in dieser Mannschaft intelligente Leute a priori mit Misstrauen bedacht wurden. Intellektuelle Überlegenheit und Charisma waren - und sind auch heute - in bestimmten Politiker- und Managerkreisen nun einmal nicht gern gesehen, Mittelmäßigkeit, Opportunismus, gläubiges Vertrauen in Ratschlüsse von Vorgesetzten hingegen sehr.

Das Entsetzen stand den Abgeordneten der DDR-Volkskammer in den Gesichtern geschrieben, als sie am 13. November 1989, vier Tage nach dem Mauerfall und knapp einen Monat nach der Entmachtung von Honecker, hilflose Rechtfertigungsversuche der noch amtierenden Regierung anhören mussten. Diese war am 7. November offiziell zurückgetreten und war nur noch geschäftsführend tätig. Der bisherige Ministerpräsident Willy Stoph sah sich genötigt zuzugeben, dass die Arbeit seiner Regierung "eingeschränkt" gewesen sei und benannte Honecker und Mittag als die Verantwortlichen für die Misere. Finanzminister Ernst Höfner räumte ein, dass die Wirtschaft der DDR zum großen Teil nur durch Westkredite finanziert worden sei und sich die Rentabilität der Betriebe verschlechtert habe. Hingegen hatte all die Jahre die von Honecker und seinem Medienchef Joachim Hermann gegängelte Propaganda behauptet, der Arbeiter-und-Bauern-Staat gehöre zu den zehn führenden Volkswirtschaften der Welt. Die Mark der DDR habe eine Abwertung erfahren, und es seien hohe volkswirtschaftliche Verluste eingetreten. Höfner war einer der Autoren der "Analyse der ökonomischen Lage der DDR mit Schlussfolgerungen" zusammen mit Gerhard Schürer, Gerhard Beil, Alexander Schalck-Golodkowski und Arno Donda, die dem Politbüro der SED am 30. Oktober 1989 übergeben wurde. Der als "Schürer-Papier" bekannt gewordenen Geheimbericht benannte die Überschuldung und wirtschaftliche Zerrüttung der DDR, von der Honecker & Co. nichts wissen wollten. Am 13. November 1989 sprach Höfner in der DDR in der Volkskammer erstmals zur Staatsverschuldung und erklärte, dass der gegenüber dem Parlament stets als ausgeglichen dargestellte Staatshaushalt zum Teil nur auf der Aufnahme immer neuer Kredite beruht habe.

Stammelnd vor der Volkskammer

Den Vogel in jener historischen Sitzung schoss der bisherige Minister für Staatssicherheit Erich Mielke ab. Große Verwunderung und blankes Entsetzen löste die am 13. November 1989, vier Tage nach dem Fall der Mauer, gehaltene erste und einzige Rede aus, die Mielke vor der DDR-Volkskammer stammelnd zu seiner Rechtfertigung hielt. "Wir haben, Genossen, liebe Abgeordnete, einen außerordentlich hohen Kontakt mit allen werktätigen Menschen in überall... ja, wir haben einen Kontakt, ja wir haben einen Kontakt, ihr werdet gleich hören ... ihr werdet gleich hören, warum. Wir haben den Auftrag erst mal gehabt als Allerwichtigstes alles aufzudecken, was gegen den Frieden sich richtete, und wir haben hervorragende Informationen geliefert, die die Entwicklungen jetzt zu sich ... soweit brachten, wie wir sie heute haben, Genossen. Aber, einen Moment mal bitte." Mielke unterbrach sich, als ein Abgeordneter den Volkskammerpräsidenten bat, er möge doch endlich klarstellen, dass nicht nur Genossen in dieser Kammer sitzen. Daraufhin bat Mielke um Verzeihung, um dann mit diesen Worten fortzufahren: "Das ist doch nur 'ne natürliche, menschliche Frage. Das ist doch eine formale Frage. Ich liebe ... ich liebe doch alle, alle Menschen ... Ich liebe doch, ich setze mich doch dafür ein ..." Seine Leute hätten alle Informationen entgegen genommen und an die zuständigen Stellen weitergeleitet, um Schaden von der DDR abzuwenden, z. B. was die Republikflucht betrifft.

Dass er sich nicht wie bisher als der nach Honecker mächtigste Mann in der DDR aufspielen konnte, war für Mielke eine neue, höchst unangenehme Erfahrung. Wie ein begossener Pudel verließ er das Rednerpult. Kurz nach diesem clownesken Auftritt wurde der SED-Abgeordnete Hans Modrow als Nachfolger von Stoph zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Das Ende der Einparteienherrschaft und der DDR nahm seinen Anfang. Noch aber hatten die Sicherheitsorgane nicht die Absicht, freiwillig ihre Positionen zu Räumen, auch wenn das Stasiministerium schnell in ein "Amt" zurückgestuft wurde.

Im SED-Blatt Neues Deutschland wurde Mielkes Auftritt in der üblichen unscharfen, ja verniedlichenden Weise so zusammengefasst. "Der Abgeordnete Mielke versuchte klarzustellen, welche Verpflichtungen die Mitarbeiter des MfS gegenüber dem Volk haben. Die Vertretung der Interessen aller Werktätigen sei stets oberster Auftrag gewesen. Erste Aufgabe des MfS ist, alles aufzudecken, was sich gegen den Frieden richtet. Als weiteren Auftrag nannte er die Stärkung der sozialistischen Wirtschaft. Viele Menschen hätten sich an das MfS gewandt, über Unzulänglichkeiten informiert." Mit Bitterkeit sprach Mielke, so das Neue Deutschland weiter, seien viele Informationen nicht berücksichtigt worden. Mielkes schnell zum geflügelten Wort gewordenen "Liebes"-Satz wiederzugeben, verkniff sich das Parteiorgan.

Seine Stammelei kam im Stasi-Ministerium und draußen im Lande nicht gut an. In einem Brief an den Volkskammerpräsidenten Günter Maleuda erklärten leitende Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit, sie hätten mit Betroffenheit das Auftreten des amtierenden Ministers am 13. November 1989 in der Volkskammer zur Kenntnis genommen. "Durch seine unzureichenden Darlegungen und Rechtfertigungsversuche, ohne zugleich die politische Verantwortung für die Gesamttätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit persönlich zu übernehmen, ist in der Öffentlichkeit ein falsches Bild über die Tätigkeit und die Haltung der Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit entstanden. Davon distanzieren wir uns entschieden." Die Briefschreiber versichern erneut, dass die dass die Staatssicherheitsorgane sich mit Entschiedenheit zur Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft bekennen, sie engagiert unterstützen und die dazu notwendigen Veränderungen bei sich selbst durchsetzen werden. Mielke habe nach einer Aussprache mit dem Kollegium des Ministeriums seine Ausführungen vor der Volkskammer bedauert.

Bringt Kalk und Steine mit

"Schreibt Eure Forderungen an die Mauern der Normannenstraße! Bringt Farbe und Spraydosen mit! Wir schließen die Tore der Stasi! Bringt Kalk und Mauersteine mit!" - das Neue Forum hatte sich viel vorgenommen, als es mit solchen Sätzen zu einer Montagsdemo der besonderen Art am 15. Januar 1990 vor Mielkes Hauptquartier an der Ruschestraße und Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg aufrief. Mit der spektakulären Aktion vor dem Gebäude, das heute Gedenkstätte ist, wollten Bürgerrechtler "Ohne Gewalt - mit Farbe und Phantasie", so eine Plakatüberschrift, den Druck auf die Modrow-Regierung verstärken, die Auflösung des DDR-Geheimdienstes zügig voranzutreiben und Ermittlungsverfahren gegen seine Mitarbeiter einzuleiten. Erst nach diesem spektakulären Ereignis sah sich die Regierung genötigt, die Arbeit des einst mächtigen Repressionsapparats einzustellen. Die Stasizentrale wurde von den aufgebrachten Menschen zum Teil demoliert, an brisante Akten indes kamen sie nicht, denn die waren zuvor schon in die Sowjetunion verbracht oder vernichtet worden. Doch konnten viele Akten konnten gerettet und rekonstruiert werden. Dem Chef des "Liebesministeriums" wurde 1992/3 der Prozess gemacht, doch schon 1995 kam er aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft frei. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Erich Mielke in einem Berliner Altenpflegeheim, von seinen Genossen von der Außenwelt abgeschirmt. In einem anonymen Grab auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde ist seine Urne bestattet. Sein verhängnisvolles Erbe wirkt lange nach, und wenn Menschen an Mielke und die Stasi denken, bekommen sie auch heute noch eine Gänsehaut.

(7. Mai 2016)

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