Menschengemeinschaft war nur ein Phantom

Die von Ulbricht dekretierten zehn Gebote der sozialistischen Moral erwiesen sich unter den Bedingungen einer Diktatur als Schlag ins Wasser







Die 1958 von Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED verkündeten
Zehn Geboteder sozialistischen Moral, offiziell "10 Gebote für den neuen
sozialistischen Menschen" genannt, verfehlten ihr Ziel und
verschwanden 1971 im Orkus der Geschichte.




Plakatpropaganda und Jubelgesänge konnten über die allgemeine Tristesse
in der DDR nicht hinweg täuschen, die "Bonzen" bekamen davon wenig mit.




Im langweiligen Polituntericht mussten die Dozenten oft mit Desinteresse rechnen,
selbst Karl Marx an der Wand muss auf dieser Karikatur gähnen.




Streng verboten als Staatsverbrechen war die Vervielfältigung verbotener Schriften,
trotzdem haben das unbotmäßige DDR-Bewohner getan. (Repros: Caspar)

Walter Ulbricht, als Staats- und SED-Chef bis zu seiner mit gesundheitlichen Problemen begründeten Ablösung am 3. Mai 1971 der mächtigste Mann in der DDR, träumte von der sozialistischen Menschengemeinschaft. Dass diese irgendwie nach der von den Nazis propagierten Volksgemeinschaft roch, hat ihn und seinesgleichen wohl nicht sonderlich gestört. In der Verfassung von 1968 wurde ausdrücklich festgeschrieben, die DDR fördere und schütze die sozialistische Kultur, "die dem Frieden, Humanismus und der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft dient". Den Propagandisten dieses Ziels stand der "neue Mensch" vor Augen, der sich durch Liebe zum sozialistischen Vaterland, Ehrlichkeit im beruflichen und privaten Leben, Pflichterfüllung und viele andere Tugenden auszeichnet und mit dem imperialistischen Westdeutschland nichts gemein hat. Die 17 Millionen DDR-Bürger sollten wie eine große Familie sein, doch verkannte diese Vision, dass es gerade in Familien viele Konflikte gibt und sich einer über den anderen stellt und wie die Staatspartei SED missliebige Taten und Meinungen unterdrückt.

Auf einem Kongress der Nationalen Front erklärte Ulbricht am 22. März 1969, die sozialistische Menschengemeinschaft, die wir Schritt für Schritt verwirklichen, gehe weit über das alte humanistische Ideal hinaus. "Sie bedeutet nicht nur Hilfsbereitschaft, Güte, Brüderlichkeit, Liebe zu den Mitmenschen. Sie umfasst sowohl die Entwicklung der einzelnen zu sozialistischen Persönlichkeiten als auch der vielen zur sozialistischen Gemeinschaft im Prozess der gemeinsamen Arbeit, des Lernens, der Teilnahme an der Leitung und Planung der gesellschaftlichen Entwicklung, besonders auch in der Arbeit der Nationalen Front und an einem vielfältigen, inhaltlichen und kulturellen Leben." Der erste Mann im Staate behauptete, die Grundsätze der sozialistischen Moral würden zunehmend Einfluss auf das Zusammenleben der Bürger in der DDR ausüben, und er wusste, dass das nicht stimmt.

Der von Ulbricht propagierte Begriff wurde auf dem VIII. Parteitag der SED (1971) als nicht brauchbar bezeichnet. Ulbrichts Nachfolger Erich Honecker rief statt dessen die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik als neue Vision aus. Das für ideologische Fragen zuständige SED-Politbüromitglied Kurt Hager stellte fest, die sozialistische Menschengemeinschaft bringe zweifellos das Entstehen neuer gesellschaftlicher Beziehungen zum Ausdruck. Auf den gegenwärtigen Entwicklungsabschnitt des sozialistischen Aufbaus in der DDR angewandt, sei der Begriff aber wissenschaftlich unexakt, da er die tatsächlich noch vorhandenen Klassenunterschiede verwische und den tatsächlich erreichten Stand der Annäherung der Klassen und Schichten nicht widerspiegelt.

Was die DDR-Bewohner alles tun sollen

Gegenüber der imperialistischen Bundesrepublik gab sich die DDR als der bessere deutsche Staat aus. Die vom SED-Zentralkomitee gesteuerten Medien hatten alle Hände voll zu tun, diesen Unterschied herauszukehren - hier Anstand und Moral, Fröhlichsein und Singen, Optimismus und Lebensfreude, dort Verbrechen und Lebensverdruss, Dekadenz, Neofaschismus und Kriegstreiberei, Elend wohin man schaut und das unvorstellbare Luxusleben einer dünnen Oberschicht. Dieses Bild vom Klassenfeind wurde durch Horrormeldungen über die die totale Abhängigkeit von den USA und eine perfide Wühlarbeit gegen die DDR abgerundet.

Damit auch jeder von seinen Untertanen weiß, wie man sich im Staat der Arbeiter und Bauern verhält, erfand der SED- und Staatschef Ulbricht die "Zehn Gesetze der sozialistischen Moral" als Instrumente zur Erziehung der DDR-Bewohner im Sinne von Marx, Engels und Lenin, zur inneren Stabilisierung und zur Stärkung der Volkswirtschaft. 1958 auf dem V. Parteitag der SED verkündet, bestanden die Forderungen nicht aus neun oder elf Nummern, sondern aus exakt zehn. Da sie der Zahl der in der christlichen Kirche bestehenden Gebote entsprachen, war ihre Stoßrichtung deutlich.

Die SED- und DDR-Staatsführung versprach sich 1958, fünf Jahre nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953, politische und materielle Effekte von ihren in Gebotsform gekleideten Weisungen, erreichte aber nicht viel. Denn die durch eigenes Versagen forcierte Fluchtbewegung hielt weiter an und wurde erst am 13. August 1961 durch den Mauerbau aufgehalten. Ulbrichts immer mit der Aufforderung "Du sollst" beginnenden Moralgesetze beschränkten sich nicht nur auf den privaten Bereich, sondern verpflichteten die DDR-Bewohner für weitaus mehr, und zwar: "1. Du sollst Dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen. 2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fähigkeit für die Verteidigung der Arbeiter-und-Bauern-Macht einzusetzen. 3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. 4. Du sollst gute Taten für den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus führt zu einem besseren Leben für alle Werktätigen. 5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen. 6. Du sollst das Volkseigentum schützen und mehren. 7. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistungen streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen. 8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und körperlich gestählten Menschen erziehen. 9. Du sollst sauber und anständig leben und Deine Familie achten. 10. Du sollst Solidarität mit den um ihre nationale Befreiung kämpfenden und den ihre nationale Unabhängigkeit verteidigenden Völkern üben."

Widerstand der Kirche

Die evangelische Kirche wandte ein, "der Christ" könne die Gebote der sozialistischen Ethik und Moral nicht zur verbindlichen Grundlage seines Lebens und Arbeitens machen. Wohl könne er manche Forderung auch von seinem Standpunkt aus anerkennen, so etwa gewissenhafte und treue Arbeit, kameradschaftliche Hilfe, berufliche Qualifikation, Sauberkeit der Haltung, Reinhaltung der Ehe. "Aber etwa die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und ihren unversöhnlichen Kampf gegen andere Gesellschaftsordnungen kann er weder in der Theorie noch in der Praxis zur Grundlage seines Lebens und damit auch seiner Arbeit machen. Der Christ kann das erste Gebot Gottes nicht durch das erste Gebot der sozialistischen Ethik und Moral ersetzen." Die ablehnende Haltung der Kirche gegenüber Ulbrichts Geboten wurde als staatsfeindliche Einstellung im antikirchlichen Kampf ausgeschlachtet und führte zur weiteren Konfrontation im Inneren.

Im Übrigen richteten sich Funktionäre und andere Amtsträger mitnichten nach den ziemlich weltfremden Geboten ihres obersten Moralapostels. Erst nach der so genannten Wende wurde bestätigt, was man immer vermutete, dass nämlich in Partei-, Stasi- und anderen Funktionärskreisen alles andere als moralisch saubere Lebensführung üblich war. Aber das war keine Besonderheit des SED-Systems, sondern ist leider überall gang und gäbe. Erwähnt sei, dass der Slogan "Vom Ich zum Wir" keine Erfindung der SED-Oberen, sondern bereits in der Nazizeit im Schwange war. So wie sich auch viele Rituale bei Aufmärschen und die Töne und Themen in der Propaganda gelegentlich ähnelten. .

8. September 2016

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