Göring hoffte auf milde Richter

Vor 70 Jahren hielt der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess die Welt in Atem


Der frühere Reichsmarschall Hermann Göring spielte beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess die verfolgte Unschuld und hoffte vergeblich, mit einem milden Urteil davon zu kommen. Zeichnung des britischen Karikaturisten David Low.



Das Spandauer Kriegsverbrechergefängnis war bis zum Tod des ehemaligen Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß eine der letzten gemeinsamen alliierten Institutionen im damaligen Westberlin. (Repros: Caspar)


Hitler, Himmler, Goebbels, Bormann und andere hohe Naziführer und Militärs konnten nach dem Ende des NS-Regimes und des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden, sie hatten sich ihren Richtern durch Selbstmord entzogen. Aber andere blutbefleckte Politiker, Militärs, Diplomaten und Ideologen wurden am 20. Oktober 1945 vor das Nürnberger Militärtribunal gestellt und nach einjähriger Verhandlungszeit verurteilt. Fast wäre der Prozess geplatzt, denn dem Chefankläger der USA, Robert H. Jackson, war zu Ohren gekommen, dass die Siegermächte führende Mitglieder der NSDAP, der SA und SS, der Gestapo und weiterer Verbrecherorganisationen zur Zwangsarbeit deportieren und in Konzentrationslagern, die man natürlich anders genannt hätte, verschwinden lassen wollen. Jackson protestierte mit dem Hinweis, die Maßnahme würde dem Ansehen der USA und seiner Justiz schaden und könnte als bloße Rache der Sieger, als schnöde Siegerjustiz interpretiert werden, wo doch Gerechtigkeit und penible Aufarbeitung der Verbrechen vonnöten seien.

Der Prozess wurde am 18. Oktober 1945 mit einem symbolischen Akt im Berliner Kammergericht eröffnet, wo wenige Monate zuvor der Präsident des Volksgerichtshofs, Roland Freisler, zahlreiche Beteiligte und Mitwisser des Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944 aufs Rüdeste beleidigt und zum Tod verurteilt hatte. Das eigentliche Verfahren gegen 24 Hauptkriegsverbrecher wurde vor dem internationalen Militärtribunal im Nürnberger Justizpalast durchgeführt, doch behielt das Gericht gemäß Artikel 22 seiner Charta seinen ständigen Sitz in Berlin. Der Prozess wurde am 1. Oktober 1946 in Nürnberg mit der Urteilsverkündung abgeschlossen.

Grundlage des Verfahrens, das vor 70 Jahren die Welt in Atem hielt und unzählige Berichterstatter nach Nürnberg anzog, war die Moskauer "Erklärung über deutsche Gräueltaten im besetzten Europa" der Alliierten Staaten vom 30. Oktober 1943. Sie bekräftigte ihre Entschlossenheit, die Verbrechen Nazideutschlands unnachgiebig zu verfolgen und die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Deutsche, die in einem besetzten Land Verbrechen begangen hatten, sollten an dieses ausgeliefert werden und nach dort geltendem Recht verurteilt werden. Der im Oktober 1943 gegründete United Nations War Crimes Commission arbeitete Vorschläge für die strafrechtliche Verfolgung der Naziverbrecher aus, die dem Londoner Viermächte-Abkommen vom 8. August 1945 als Grundlage dienten. Es legte fest, dass Frankreich, Großbritannien, die die Sowjetunion und die USA einen Internationalen Militärgerichtshof "zwecks gerechter und schneller Aburteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse" bilden werden.

Der Aufwand, der im Interesse eines fairen Verfahrens bei Übersetzungen der Verhandlungen und der Verlesung der Dokumente getrieben wurde, war enorm. Im Nürnberger Justizpalast schlug die Geburtsstunde des Simultandolmetschens. Richter, Verteidiger, Angeklagte und Zeugen standen zahlreiche Simultandolmetscher zur Seite, die sich einer von der Firma IBM speziell für den Prozess entwickelten Simultananlage bedienten und jedes gesprochene Wort und alle Dokumente gleichzeitig in die englische, russische, französische und deutsche Sprache übersetzen. Da manche Dolmetscher zu den Holocaust-Überlebenden gehörten, war es für sie oft unerträglich, das Gehörte zur Kenntnis zu nehmen und in andere Sprache zu übertragen.

Merkwürdigerweise spielte in dem Nürnberger Verfahren der Massenmord an den deutschen und europäischen Juden keine sonderliche Rolle, obwohl die Alliierten über die Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern genau Bescheid wussten und ihre Truppen die Leichenberge, Gaskammern und Krematorien gesehen hatten. Ein wichtiges Dokument, das von Adolf Eichmann verfasste Protokoll der Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 mit Festlegungen über die ? Endlösung der Judenfrage, war noch nicht gefunden und kam erst in späteren Verfahren zur Sprache.

Nach intensiven Zeugenbefragungen, der Sichtung unzähliger Dokumente und Verhören der Angeklagten fällte das Gericht am 1. Oktober 1946 seine Urteile. Zum Tod durch den Strang verurteilt wurden Reichsleiter und Sekretär Hitlers Martin Bormann (in Abwesenheit), der Gouverneur des besetzten Polen Hans Frank, Reichsinnenminister Wilhelm Frick, Reichsmarschall und Reichsluftfahrtminister Hermann Göring, der Chef des Wehrmachtführungsstabs Alfred Jodl, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes der SS Ernst Kaltenbrunner, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht Wilhelm Keitel, Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, der NS-Ideologe und Minister für die besetzten Ostgebiete Alfred Rosenberg, der Reichsbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel, der Reichskommissar der Niederlande Arthur Seyß-Inquart sowie der Nürnberger Gauleiter und Herausgeber des Hetzblattes "Der Stürmer" Julius Streicher. Zu Beginn des Prozesses hatte Robert Ley, der Chef der Deutschen Arbeitsfront, Selbstmord begangen. Hitlers 1941 nach England entwichener Stellvertreter Rudolf Heß erhielt eine lebenslange Zuchthausstrafe, und der Stararchitekt und Rüstungsminister Albert Speer kam mit 20 Jahren Zuchthaus davon und saß seine Strafe gemeinsam mit dem ehemaligen Reichsjugendführer und Gauleiter von Wien Baldur von Schirach bis zum letzten Tag im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis ab. Speer war der einzige Angeklagte aus Hitlers engster Umgebung, der in Nürnberg die Richter durch eine Art Schuldbekenntnis zu beeindrucken verstand, weshalb er dem Todesurteil entging. Er nutzte die Haftzeit in Spandau zum heimlichen Abfassen von Tagebüchern und Buchmanuskripten. Deren Veröffentlichung machte ihn nach 1966 zu einem wohlhabenden Mann. Sie trugen zur Legende bei, er habe als "guter Nazi" keinen Anteil an Hitlers Verbrechen gehabt und sogar in der Endphase des Krieges sogar daran gedacht, seinen Chef und die anderen Bewohner des Bunkers unter der Reichskanzlei durch Giftgas zu töten.

Im Spandauer Kriegsverbrechergefängnis schied als letzter Gefangener der hochbetagte Heß am 17. August 1987 durch Selbstmord aus dem Leben. Die von den vier Siegermächten gemeinsam bewachte Haftanstalt wurde anschließend abgebrochen, um Neonazis nicht als Ort für Heldenverehrung zu dienen. Einsicht und Reue waren von den Angeklagten nicht zu erwarten. Sie gebärdeten sich als verfolgte Unschuld, schwiegen, täuschten Geistesschwäche und Erinnerungslücken vor. Göring gebärdete sich, wie er selber sagte, als "Nazi Nummer 1" und wies alle Schuld von sich auf andere und hoffte, irgendwie davonzukommen. Der ehemalige Außenminister Joachim von Ribbentrop hatte die Chuzpe, das Gericht zu fragen: "Ich versichere Ihnen, uns alle empören diese ganzen Verfolgungen und Gräueltaten! Es ist einfach nicht typisch deutsch! Können Sie sich vorstellen, dass ich jemand töten könnte? [...] Sagen Sie mir ehrlich, sehen einige von uns wie Mörder aus?" Als Göring als erster Todeskandidat genannt wurde, sackte er in sich zusammen. Er schaffte es, in seiner Zelle eine Giftkapsel zu verbergen, und nahm sich kurz vor der Urteilsvollstreckung das Leben. Sein Leichnam wurde zu den Erhängten gelegt und später mit diesen verbrannt. Die Asche der Delinquenten wurde in einen Bach geschüttet. Leer ging der ? Wehrwirtschaftsführer Gustav Krupp bei dem Verfahren aus, der aus gesundheitlichen Gründen nicht im Gerichtssaal erscheinen musste. Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, der Sohn des Essener Waffenfabrikanten, wurde in einem anderen Verfahren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, kam aber bald frei. Verschiedene NS-Verbrecher wurden später aufgespürt und wie Adolf Eichmann hingerichtet, doch die meisten kamen ungeschoren oder mit geringen Strafen davon.

Die vollständigen Verhandlungsprotokolle des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses sowie die Statuten und die seinerzeit vorgelegten Dokumente wurden 1949 bis 1953 von der amerikanischen Regierung veröffentlicht. Die fünfzehnbändige Ausgabe in englischer Sprache ist bis heute eine der wichtigsten Quellensammlungen zur NS-Geschichte. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Editionen dieser Art sowie Einzeldarstellungen in deutscher Sprache, die den Prozess zu dem wohl am besten dokumentierten Verfahren machen. Der Ort der Verhandlungen im Nürnberger Justizpalast kann im Rahmen einer Dauerausstellung besichtigt werden, wenn keine Gerichtsverhandlungen stattfinden. Vom Zellengefängnis Nürnberg sind ein originaler Zellentrakt sowie die Gefängniskirche erhalten.

Dem Nürnberger Jahrhundertprozess folgten weitere Gerichtsverfahren. Auch diese Nachfolgeprozesse endeten mit Todes- und Zuchthausstrafen, aber auch mit Freisprüchen. Sie richteten sich gegen Ärzte, die in den Konzentrationslagern mit Häftlingen experimentiert und sie ermordet hatten, sowie Juristen und Ministerialbeamte, die als Schreibtischtäter Schuld auf sich geladen hatten. Prozesse fanden ferner gegen das für die Konzentrationslager zuständige SS-Hauptamt und das Rasse- und Siedlungsamt der SS, aber auch gegen Wehrwirtschaftsführer sowie hohe Militärs und andere Naziverbrecher statt. Die letzten Todesurteile wurden am 7. Juni 1951 in Landsberg am Lech an sieben SS-Offizieren vollstreckt. Nach wenigen Jahren Haft konnten ehemalige NS-Größen wegen guter Führung und weil sich das politische Klima in der Bundesrepublik Deutschland zu ihren Gunsten gewandelt hatte das Gefängnis verlassen. Manche machten ungeachtet ihrer tiefbraunen Vergangenheit in der Wirtschaft, Politik sowie im Bildungswesen der Bundesrepublik Deutschland Karriere. Einer der Kommentatoren der berüchtigten Nürnberger Rassengesetze, der Jurist Hans Globke, brachte es als Staatssekretär zu einem engen Mitarbeiter von Bundeskanzler Adenauer. Andere Ex-Nazis erlangten in westdeutschen Bundesländern einflussreiche Posten, wurden als Juristen oder Ärzte weiter beschäftigt, saßen in akademischen und staatlichen Gremien. Kein einziger Blutrichter musste sich im deutschen Westen wegen seiner Urteile verantworten. Spät, sehr spät stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass Nazi-Juristen das Recht auf furchtbare Weise gebrochen haben. Konsequent wurden in der Sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR Verfahren gegen Kriegsverbrecher geführt.

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