"Aktion Kahlschlag"

Mit dem 11. Plenum von 1965 machte die SED gegen unbotmäßige Künstler und unerwünschte Kunst mobil und forderte "Fröhlichsein und singen"



Die schöne sozialistische DDR-Welt wird auf diesen Plakaten mit
fröhlich und entschlossen dreinblickenden Menschen gefeiert.




Von der chemischen Industrie wurde erwartet, dass sie Brot,
Wohlstand, Arbeit und Schönheit bietet und garantiert. Das Bild zeigt
eine Fabriklandschaft ohne Fehl und Tadel, dabei
sah die rauhe Wirklichkeit entschieden anders aus.




Der Preis für künstlerisches Volksschaffen von 1965 zeigt ein tanzendes
Paar in Volkstracht, so beschwingt wollten die Politbürokraten ihre Untertanen
sehen und keine Leute, die sich nach "Ami-Musik" bewegen und über die
Alltag im Arbeiter-und-Bauern-Staat räsonnieren.




Als 1984 der 35. Jahrestag der DDR frenetisch und mit großem Propaganda-Aufwand
zelebriert wurde, war sie nur noch fünf Jahre vor ihrem Untergang entfernt.



Ende 1989 wurden die verbotenen Filme aus der Versenkung geholt und wieder mit
großem Beifall aufgeführt. Die Karikatur nimmt auf die Rehabilitation Bezug.
(Repros: Caspar)

Das 11. Plenum war in der DDR ein stehender, mit vielen negativen Emotionen verbundener Begriff für die auf einer Tagung des Zentralkomitees der SED im Dezember 1965 in Berlin ausgerufene neue sozialistische Kulturpolitik. Intern wurde die Veranstaltung, auf der der Berichterstatter Erich Honecker die DDR als einen "sauberen Staat" charakterisierte, "Aktion Kahlschlag" genannt, und tatsächlich wurde auf ihr mit unliebsamen, unbotmäßigen Künstlern abgerechnet. Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 zeitigte der Versuch der Partei, mit "Fröhlichsein und Singen" sowie einer Anhebung der Pro-Kopf-Produktion und anderen Maßnahmen die Stimmung im Lande anzuheben, nicht die erwünschten Resultate. Die parteiamtliche Aufforderung an die Künstler, das Leben so darzustellen wie es ist, wurde von einigen Literaten, Filmemachern und Malern offenbar allzu wörtlich genommen. Ihre als subversiv und viel zu kritisch eingestuften Romane, Gedichte, Filme, Gemälde und andere Arbeiten wurden von der Zensur unterdrückt und brachten die Stasi auf den Plan.

Um die Teilnehmer des 11. Plenums auf das brisante Thema einzustimmen und ideologisch wohl auch scharf zu machen, bekam jeder von ihnen eine 150 Seiten starke Lesemappe, die aber nur im ZK-Gebäude eingesehen werden durfte. Die nur zum persönlichen Gebrauch bestimmte Lektüre bestand aus Gutachten zu einzelnen Kunstwerken, Urteilen über aktuelle Tendenzen im kulturellen Bereich der DDR sowie Stasi-Berichten über die politisch-ideologische Lage an den Universitäten und Hochschulen, wo sich viel Oppositionspotenzial angesammelt hatte. Wer die Mappe las, muss den Eindruck gewonnen haben, die DDR werde vom Klassenfeind und seinen Helfershelfern im Arbeiter-und-Bauern-Staat massiv bedroht, und es müsse unbedingt etwas geschehen, um der Entwicklung Einhalt zu gebieten.

Erich Honecker, der 1971 Ulbrichts Erbe antrat und seinen Ziehvater in die Wüste schickte, behauptete in seiner Rede auf dem 11. Plenum, die DDR sei ein sauberer Staat. Er benannte den westdeutschen Imperialismus als diejenige Kraft, die in der DDR Wühlarbeit leistet und "unsere Menschen", insbesondere die junge Generation, vom rechen Pfad der sozialistischen Tugend abzubringen versucht. DDR-Künstler aller Art würden diesen Bestrebungen Zuarbeit leisten. Mit Blick auf die DDR behauptete das Mitglied des Politbüros Honecker: "In ihr gibt es unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte. In den letzten Monaten gab es einige Vorfälle, die unsere besondere Aufmerksamkeit erforderten. Einzelne Jugendliche schlossen sich zu Gruppen zusammen und begingen kriminelle Handlungen, es gab Vergewaltigungen und Erscheinungen des Rowdytums. Hier zeigt sich wiederum der negative Einfluss von Westfernsehen und Westrundfunk auf Teile unserer Bevölkerung. Wir stimmen jenen zu, die feststellen, dass die Ursachen für diese Erscheinungen der Unmoral und einer dem Sozialismus fremden Lebensweise auch in einigen Filmen, Fernsehsendungen, Theaterstücken, literarischen Arbeiten und in Zeitschriften bei uns zu sehen sind. Es häuften sich in letzter Zeit auch in Sendungen des Deutschen Fernsehfunks, in Filmen und Zeitschriften antihumanistische Darstellungen. Brutalitäten werden geschildert, das menschliche Handeln auf sexuelle Triebhaftigkeit reduziert."

Verbotene Kaninchenfilme

Das Verdikt traf eine Reihe von Defa-Filmen, die wie der vom Regisseur Kurt Maetzig geschaffenen Streifen "Das Kaninchen bin ich" auch Kaninchenfilme, aber auch weil sie niemals aufgeführt waren und im Keller verschwanden Kellerfilme genant wurden. Ein großer Teil der von der Zensur unterdrückten Kaninchenfilme stammt aus den Jahren 1965 und 1966, aus der Zeit also, da viele Künstler und Kulturschaffende im Vertrauen auf eine gewisse Liberalisierung Werke schufen, die sich nicht stur an der Parteilinie orientierten, sondern das Leben schilderten, wie es ist und nicht wie es sein soll. Der populärste Kellerfilm war ohne Zweifel der unter der Regie von Frank Beyer gedrehte Film "Die Spur der Steine" mit Manfred Krug in der Hauptrolle. Während in "Das Kaninchen bin ich" die sozialistische Justiz und ein opportunistischer Richter kritisch aufs Korn genommen wurden, spielte "Die Spur der Steine" im Bauarbeitermilieu. Der Film mit einer Szene, in der ein Volkspolizist unter allgemeinem Gejohle ins Wasser geworfen und damit auch die Staatsmacht dem Spott preisgegeben wird, wurde kurzfristig aufgeführt. Ulbricht wies Proteste in den Kinos an, weshalb der Streifen zurückgezogen und im Depot der Defa und der Stasi verschwand. Erst 1989 konnte er offiziell wieder gezeigt werden. Weitere seinerzeit verbotene oder gar nicht erst fertig gestellte Filme waren (in Auswahl): "Der Frühling braucht Zeit" (Günter Stahnke, 1965), "Karla" (Herrmann Zschoche, 1966), "Berlin um die Ecke" (Gerhard Klein, 1965), Wenn du groß bist, lieber Adam (Egon Günther, 1965), "Hände hoch oder ich schieße" (Hans-Joachim Kasprzik, 1966), "Der verlorene Engel (Ralf Kirsten, 1966, über Ernst Barlach) "Jahrgang 45" (Jürgen Böttcher, 1966). Damit nicht genug wurden auch später hergestellte Filme verboten. Manche wurden nach der "Wende" 1989/90 aus den Verliesen geholt und erstmals gezeigt.

Die Plenartagung ging nicht nur mit unbotmäßigen Künstlern und unerwünschter Kunst ins Gericht, im Sinne des SED-Chefs und Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, der sich wie weiland Kaiser Wilhelm II. zum obersten Richter in Sachen Kunst, Kultur und Lebensweise aufschwang, wurde auch die junge Generation und ihr unsozialistisches Gebaren kritisch aus Korn genommen. "Wir wissen auch nicht alles, noch nicht alles. Als in der DDR durch bestimmte Gruppen der Jugend und die sogenannte Beatbewegung Exzesse sichtbar waren, haben wir also uns die Frage gestellt, was sind die Ursachen. Wir sind zu der Schlussfolgerung gekommen, dass es nicht richtig wäre, sozusagen mit einer Jugenddiskussion zu beginnen, sondern wir haben uns gesagt, wollen wir doch mal beginnen mit der Untersuchung - oben. Wo ist von Seiten zentraler Organe des Fernsehens, der Kultur, der Literatur so gewirkt worden, dass solche Auswirkungen auf die Jungen unvermeidlich waren."

Die neue Eiszeit

Auf dem 11. Plenum wurde die schlichte Abschilderung der Alltags- und Arbeitswelt im Sinne des sozialistischen Realismus verlangt, doch waren nicht alle Künstler dazu bereit. Einzig die Schriftstellerin Christa Wolf, damals Kandidatin des ZK der SED, wagte es, diesen kulturpolitischen Kurs infrage zu stellen, kam mit ihren Einwänden aber nicht durch. Bekannte Künstler wandten sich, da sie nicht im Sinne der SED "parteilich" genug malten oder schrieben und deshalb in ihrem Schaffen behindert wurden, von der DDR ab, reisten aus, wurden wie der systemkritische Wissenschaftler Robert Havemann arbeitslos gemacht und wie sein Freund, der Liedermacher Wolf Biermann, ausgebürgert. Manche zogen sich in die innere Emigration zurück, oder verstummten, ihrer Arbeitsgrundlage entzogen und unter Mal- und Schreibverbot stehend, ganz.

Die vom 11. Plenum ausgehende neue Eiszeit wirkte sich verheerend auf das geistige und kulturelle Klima in der DDR aus. Die SED-Führung glaubte nach dem Mauerbau die Zügel anziehen zu können und vorzuschreiben, was gedichtet, gemalt, fotografiert und gefilmt wird. Manche Künstler mit und ohne Parteibuch fühlten sich, als würden sie bei dem Generalangriff auf "schädliche Tendenzen" zur Schlachtbank geführt. Ulbricht warf "einigen Kulturschaffenden" vor, sie hätten die große schöpferische Freiheit, die die sozialistische Gesellschaftsordnung ihnen gewährt, "so verstanden, dass die Organe der Gesellschaft auf jede Leitungstätigkeit verzichten und Freiheit für Nihilismus, Halbanarchismus, Pornographie und andere Methoden der amerikanischen Lebensweise gewähren." Gemeint war unter anderem Biermann, "der seine Kloakenbegriffe benutzt zur Besudelung der Partei der Arbeiterklasse, für deren hohe Ziele sein eigener Vater von den Faschisten ermordet wurde", so wenigstens die Philippika aus dem Mund hochrangigen, für kulturelle Dinge zuständigen SED-Funktionärs Alexander Abusch.

Da die Parteiführung schon einmal dabei war, amerikanische Tendenzen im kulturellen Leben der DDR anzuprangern, wurde auf die dort sehr gern gehörte, freilich nur durch den RIAS und andere westliche Rundfunksender vermittelte Beat-Musik eingedroschen. Ulbricht, der sich liebend gern als Freund der Jugend feiern ließ, nahm "die ewige Monotonie des, yeah, yeah, yeah" auf, die er geisttötend und lächerlich fand. Der Gegner nutze diese Art Musik aus, hieß es in einer parteiamtlichen Kritik an die Adresse der FDJ-Führung, um durch die Übersteigerung der Beatrhythmen Jugendliche zu Exzessen aufzuputschen. Der schädliche Einfluss solcher Musik auf das Denken und Handeln von Jugendlichen wurde grob unterschätzt." Der Zentralrat der FDJ musste Selbstkritik üben und die politisch-ideologische Bildungsarbeit unter den Jugendfreunden mit den blauen Hemden verstärken, was von diesen nur mit Unbehagen und innerem Widerstand quittiert wurde. Einige Jahre später wurde der von Ulbricht & Co. verdammte Beat in einer DDR-Version zugelassen.

Transatlantische Krawallmusik

Der nach der Messestadt Leipzig (lateinisch Lipsia) benannte und getanzte Lipsi war die sozialistische Antwort auf den von Ulbricht und Genossen als Ausdruck von amerikanischer Unkultur und antisozialistischer Dekadenz verteufelten Rock' n' Roll. Die Melodie im 6/4 -Takt schuf der Komponist René Dubianski, die Choreographie stammte von dem Leipziger Tanzlehrerehepaar Seifert. Der 1959 auf einer Kulturkonferenz in Lauchhammer vorgestellte neue Modetanz schrieb vor, dass die Paare zusammen und nicht auseinander tanzten, obwohl das gerade im Trend lag. Der tanzfreudige und um Popularität bemühte Ulbricht, der aus Leipzig stammte, und die Clique um ihn missbilligten die freien, wilden und ungebundenen Bewegungen auf der Tanzfläche mit größtem Widerwillen.

Ulbricht und seine Nachbeter erbosten sich über dieses "Gehüpfe" von jungen Leuten in so genannten Texashemden und engen Nietenhosen, und forderte kategorisch, dass der im Westen und auch im Osten heiß geliebte Twist und Rock 'n 'Roll verboten werden. Der Lipsi, der den Tänzern Fesseln anlegte, setzte sich nicht durch und verschwand ein paar Jahre nach seiner Geburt wieder in der Versenkung. Dem von der Partei als "gesittet" Tanz Lipsi half die ostdeutsche Propaganda nicht, auch nicht dass er immerzu vom DDR-Rundfunk und Fernsehen übertragen wurde, die Musikindustrie viele Schallplatten mit Lipsi-Musik presste und der neue Tanz und seine Erfinder mit Preisen überschüttet wurden. Im Gegenteil wirkten sich die parteiamtlichen Werbemaßnahmen kontraproduktiv aus, wie übrigens auch bei anderen Aktivitäten dieser Art. Wer den als "transatlantische Krawallmusik" diffamierten Rock 'n 'Roll hörte oder tanzte, wer gar Mitglied eines illegalen Fanclubs war, geriet leicht ins Visier der Staatssicherheit und unterlag Repressalien. In Prozessen gegen unangepasste Jugendliche wurde das "Abhören" dieser Musik als strafverschärfend gewertet. Erst in der Honecker-Ära ab 1971 sah man die Dinge lockerer und ließ so genannte Ami-Musik zu, achtete aber streng darauf, dass diese bei Veranstaltungen und Festivals nicht die Schöpfungen der volkseigenen Schlagerkomponisten und -sänger dominierte.

3. Oktober 2016

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