Überleben in ständiger Todesgefahr

Was der "Roman eines Schicksallosen" von Imre Kertész, des kürzlich verstorbenen Holocaust-Überlebenden und Literaturnobelpreisträgers, zu sagen hat





Das Foto oben zeigt ungarische Juden auf dem Weg nach Auschwitz.
Die Inschrift über dem Eingang zum Vernichtungslager Auschwitz gaukelte
den Häftlingen vor, dass sie eines Tages durch angestrengte
Arbeit die Freiheit wiedererlangen können.




Nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz wurden
Berge von Schuhen und anderen Habseligkeiten gefunden, die den
Häftlingen vor der Vergasung abgenommen wurden.




Unweit des Berliner U-Bahnhofs Wittenbergplatz nennt eine
Gedenktafel die wichtigsten Konzentrations- und Vernichtungslager
aus der Zeit der Naziherrschaft. (Foto/Repros: Caspar)

Ich habe den "Roman eines Schicksallosen" des am 31. März 2016 verstorbenen ungarischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész gelesen. Das tat ich zum zweiten Mal und bin erneut vom Schicksal des fünfzehnjährigen Juden und dem, was er in Auschwitz-Birkenau, in Buchenwald und Zeitz erlebt und erdulden musste, schwer getroffen. Kertész' erster Roman baut auf seinen eigenen Erfahrungen als Heranwachsender in den Nazi-Konzentrationslagern auf. Die Hauptfigur György Köves betrachtet das, was mit ihm, seiner Familie und weiteren Menschen geschieht, naiv, fast wie ein Kind, ohne sie völlig zu verstehen oder sich darüber zu empören. Auch die Familie und Freunde erkennen 1944 nicht oder wollen es auch nicht wissen, in welcher Gefahr sie schweben. Sie erleben, wie in dem von den Deutschen im März 1944 besetzten Land brutale Jagd auf Juden unter Leitung von Adolf Eichmann gemacht wird, und hoffen, davon verschont zu werden.

Das Sondereinsatzkommando Eichmann war eine Spezialeinheit der SS. Sie hatte den Auftrag, "die ungarischen Juden aus dem öffentlichen Leben auszuschalten und zu konzentrieren, danach zu deportieren und sie mit Ausnahme der voll Arbeitsfähigen zu vernichten." Am 31. März 1944 wurde ungarischen Juden das Tragen des gelben Judensterns befohlen, von dem György immer wieder erzählt. Er muss seine Schule verlassen und wird zur Zwangsarbeit in einen ungarischen Rüstungsbetrieb abkommandiert und bekommt einen besonderen Ausweis, der ihn als wichtig für die Kriegsproduktion deklariert und ihm eine gewisse Bewegungsfreiheit in Budapest sichert. Doch eines schönen Tages werden er und viele andere Juden aus den Fabrikbussen geholt und bald darauf mit der Eisenbahn nach Auschwitz-Birkenau transportiert. Dort spielen sich schreckliche Szenen ab, und es gibt auch schon die ersten Toten in den verriegelten Waggons.

Eine Mitte April 1944 geschlossene ungarisch-deutsche Vereinbarung hatte zunächst vorgesehen, dass 100 000 arbeitsfähige Juden in deutsche Fabriken zur HZwangsarbeit geschickt werden. Doch dann hat die deutsche Seite den Plan dahingehend geändert, dass die gesamte jüdische Bevölkerung Ungarns in die Konzentrationslager gebracht wird, wo über ihr weiteres Schicksal entschieden werden sollte. Insgesamt wurden zwischen dem 27. April und 11. Juli 1944 mit Unterstützung der aus Kollaborateuren bestehende ungarischen Regierung und ihrer Polizei 437 000 Juden deportiert und un-zählige ermordet. Dies alles wird in dem Roman nur angedeutet, die Ursachen und Beweggründe für die Liquidierung der ungarischen Juden kommen dort nicht vor. Wie hätte der Erzähler denn davon auch wissen sollen? Die ungarischen und die deutschen Schergen werden vom Erzähler quasi wie normale Leute mit den üblichen menschlichen Unzulänglichkeiten gewertet.

Kertész' Schilderungen erhalten durch die spezifische Sichtweise ihre "schockierende Glaubwürdigkeit", wie 2002 die Schwedische Nobelpreis-Akademie feststellte. Als der Roman 1975 in Ungarn erschien, wurde er von der Kritik totgeschwiegen, eine Erfahrung, die Kertész in seinem Buch "Fiasko" beschrieb. Erst 1985 brachte ihm die Neuauflage des "Schicksallosen" in einem liberaleren politischen Klima in der damaligen Volksrepublik Ungarn die gebührende literarische Anerkennung. Der Roman des in Budapest bescheiden und zurückgezogen lebenden Autors ist Teil einer Tetralogie, deren dritte Folge "Kaddisch für ein nicht geborenes Kind" heißt. Der vierte Teil erschien im Jahr 2003 unter dem Titel "Liquidation". Da war der Autor bereits der weltbekannte Literaturnobelpreisträger, der einzige, den Ungarn bisher hervorgebracht hat. Als sein erster Roman 1973 mit der Begründung abgelehnt worden war, er komme mit dem Thema Auschwitz angeblich zu spät und es sei zu banal abgehandelt, antwortete Kertész: "Denke ich an einen neuen Roman, denke ich wieder nur an Auschwitz." Er habe zwar eine autobiographische Form verwendet, aber keinen autobiographischen Text geschrieben. Seine frühen Arbeitsnotizen legen nahe, dass der Arbeitsdienst, der den Erzähler vom Tod im Gas bewahrt, eine Allegorie für seine exemplarische "Arbeit an sich selbst" ist, die er nach seiner Befreiung als werdender Autor in Budapest leistete. Das Buch wurde 2003/4 von Lajos Koltai verfilmt. Die deutsche Fassung fand 2005 auf der Berlinale großen Anklang.

Der nur den Fakten nach autobiografische Roman, den die Fachkritik als eines der bedeutendsten Erzählwerke über den Holocaust bezeichnet, schildert mit höchster Sensibilität und zugleich rationaler Distanz den Leidensweg des Fünfzehnjährigen, der zunächst nach Auschwitz-Birkenau, dann nach Buchenwald und zum Schluss nach Zeitz deportiert wird und nach seiner Befreiung in Budapest mit dem Unverständnis seiner Mitbürger konfrontiert wird. Erzählt wird aus der naiven Perspektive der Ich-Figur. Ihr erscheint die unmenschliche Wirklichkeit der Lager als selbstverständlich, als ein harter, aber irgendwie akzeptabler Alltag.

Überall herrscht akute Lebensgefahr für ihn und seine Kameraden, die das "Glück" hatten, nicht gleich in Auschwitz-Birkenau von der Rampe weg ins Gas, sondern zum Arbeitsdienst geschickt zu werden. In Auschwitz ist er nur wenige Tage. Er sieht hier die rauchenden Schlote des Krematoriums, und er erlebt am eigenen Leib Hunger, Dreck, Langeweile und ewiges Warten auf irgendein Ereignis, denn er muss ja noch keine Zwangsarbeit leisten. György registriert, dass es bei den Gefangenen eine Differenzierung zwischen Privilegierten und Nichtprivilegierten gibt und dass manche schon mehrere Jahre im Lager sind. Er reflektiert das alles als gegebene Tatsache und nimmt die Dinge hin, wie sie sind. Angstgefühle lassen sich aus dem Text nicht herauslesen. Lebenserhaltend ist für ihn und andere der Hinweis von älteren Häftlingen bei der Ankunft in Auschwitz, bei der "Musterung" sein Alter mit 16 Jahren anzugeben, worauf er vom Selektionsarzt auf die "gute Seite" der Zwangsarbeiter geschickt wird.

Eindrucksvoll schildert der Verfasser aus eigenem Erleben das Verfahren, dem in Auschwitz die von der Straße weg verhafteten und in Eisenbahnwaggons transportierten Neuankömmlinge unterworfen wurden: Kleider bündeln, Schuhe zusammenbinden, Wertsachen abgeben, Haare am Kopf und anderen Körperstellen scheren und abrasieren, dann duschen und einseifen mit kratzender Seife, Einkleidung mit abgetragenen, meist zu großen Häftlingssachen mit weiß-blauen Streifen, das kärgliche Essen von hartem Brot und widerlich schmeckender Suppe, schlafen auf harten Pritschen in der überfüllten, stinkenden Baracke. Viele Ankömmlinge werden an der Rampe gleich auf die andere, die tödliche Seite geschickt, alte Leute, Kinder, Zwillinge und Zwerge. György schildert die zu Herzen gehenden Szenen der Verzweiflung und des Abschiednehmens auf Nimmerwiedersehen das sachlich, mit sparsamer Emotion und schon garnicht angsterfüllt, denn auch seinen Kameraden geht es nicht viel besser, und an den Dingen ist sowieso nichts zu ändern. Der Erzähler bekommt schnell mit, dass Aufbegehren unbedingt tödlich ist, weil die SS-Wachmannschaften schnell und unerbittlich ischießen.

Die Maßnahmen bei seiner Ankunft gleichen im Prinzip denen, die auch bei den an der Rampe selektierten, also ausgesonderten Juden angewandt werden. Doch werden diese im Duschraum nicht mit Wasser begossen, sondern in einem Raum mit schweren Türen und Öffnungen in der Decke durch Zyklon B vergast. Die Leichen werden von einem Häftlingskommando fortgeschafft, wie überhaupt überall Häftlinge den SS-Wachmannschaften zur Hand gehen, weil sich diese ihre Finger nicht schmutzig machen wollen. "Da, gegenüber, verbannten in diesem Augen-blick unsere Reisegefährten aus der Eisenbahn, alle, die im Auto hatten mitfahren wollen, und all die, die sich vor dem Arzt aus Alters- und anderen Gründen als untauglich erwiesen hatten, ge-nauso die Kleinen und mit ihnen die Mütter und die, die es in der Zukunft geworden wären, denen man es bereits hatte ansehen können. [...] All das habe ich nicht auf einmal, sondern eher nach und nach erfahren, durch immer neue Einzelheiten ergänzt..."

Der Erzähler wundert sich, dass er in der Schule nie etwas über die Massenmorde gehört hat. Er erinnert sich an Gespräche in seinem Elternhaus, bei denen es um das schnelle Ende des Krieges geht und dass die Deutschen ja ein gesittetes Volk sind, denen man Verbrechen und Gemeinhei-ten eigentlich nicht zutraut. Als er im KZ Buchenwald ist, wird ihm bewusst, dass im nahe gelegenen Weimar Goethe und Schiller gelebt haben, und schon gehen ihm Strophen aus dem "Erlkönig" durch den Kopf. In der Gefangenschaft lernt György schnell die Unterschiede von Arbeitslagern, wohin sein Vater im Frühjahr 1944 eingewiesen wurde und von dem er nichts mehr gehört hatte, seit er aus Budapest fort ist, sowie Konzentrations- und Vernichtungslager kennen. Er weiß auch, dass er sich niemals krank melden darf, sondern immer so tun muss, als sei er gesund und einsatzbereit. Und er fragt sich auch, wie "Herren in würdigem Anzug, Zigarren im Mund, Orden auf der Brust, alles sicher Befehlshaber" auf die Idee mit dem Gas, mit der Dusche und der Seife gekommen sein mögen. Er kann ja nicht wissen, dass der Massenmord nach einem klaren Plan vonstatten ging, von dem jener Eichmann 1941 in einer vornehmen Wannseevilla ein ausführliches Protokoll mit der Zielstellung angefertigt hat, elf Millionen Juden umzubringen.

Nach kurzem Aufenthalt in Buchenwald, nicht weit von Weimar entfernt, kommt György in das KZ Zeitz und in eines seiner Außenlager. Dort muss er bis zum Umfallen Zementsäcke schleppen und andere schwere Arbeit verrichten. Er ist bei der Hinrichtung geflohener und wieder eingefangener Häftlinge dabei, schaut aber nicht genau hin, er wird von den Wächtern verprügelt und begegnet im Krankenrevier einem Arzt, der sich einigermaßen korrekt verhält und ihn pflegt, so gut das möglich ist. Binnen weniger Wochen ist der Erzähler zum verschrumpelten Greis geworden, so seine Worte, bedeckt mit Wunden und Krätze. "Ich konnte nur so staunen über die Geschwindigkeit, das entfesselte Tempo, mit dem die deckende Schicht, die Elastizität, das Fleisch von meinen Knochen dahinschwand, schmolz, abfaulte und allmählich ganz verschwand." Schlimmer als sein ausgemergelter Körper peinigte ihn der Hunger. Die Suppe ist dünn und die Brotration so klein, dass er Tag und Nacht dieses furchtbare Hungergefühl hat und an nichts anderes denken kann, als irgendetwas zu essen zu bekommen. "...und wenn ich nicht Holz, Eisen oder Stein aß, dann nur, weil es Dinge sind, die sich nicht zerkauen und verdauen lassen. Aber mit Sand zum Beispiel habe ich es versucht, und wenn ich zufällig Gras sah, zögerte ich nie..." Es geht nur noch ums nackte Überleben, alles andere hat nichts mehr zu bedeuten. Der Erzähler versucht die Zeit zu überstehen, indem er an die Vergangenheit, an sein Elternhaus denkt und es sich in Gedanken vergoldet, und er wundert sich, dass er dort Essen verweigert hat, wenn es ihm mal nicht schmeckte.

Die Gefangenen halten sich irgendwwie mit der Hoffnung auf Befreiung über Wasser, haben kein anderes Thema, wenn sie unter sich sind. Sie wissen nicht, ob der Tag der Freiheit nah oder fern ist und ob sie ihn überhaupt erleben. György müht sich, nirgendwo bei den Wächtern aufzufallen und anzuecken, also ein "guter" Gefangener zu sein. So gelingt es ihm und den meisten seiner Kameraden, das Ende der Qual zu erleben und in die Heimat zu gelangen. Der Erzähler hat das Grauen überstanden, das ihn in nur einem Jahr zum Erwachsenen machte. Er hat seine Gefangenschaft beinahe wie einen Abenteuerroman erlebt und findet sogar Worte des Verständnisses für die Notwendigkeit industriell organisierter Ausbeutung der Gefangenen, unter denen es immer wieder zu "Ausfällen", sprich Todesfällen gekommen ist. Diese Perspektive hat zu Vergleichen mit Franz Kafkas Roman "Der Prozess" geführt, wo der Protagonist Josef K. sich auf ähnliche Weise seinem Schicksal fügt. Diese von Imre Kertész vermittelte Botschaft führte bei Erscheinen des Buches zu Missverständnissen.

In Budapest muss sich der aus dem KZ heimgekehrte Erzähler neugierige Fragen nach seinem Woher anhören und ob er denn auch die Gaskammern gesehen hat. Nein, habe er nicht, sonst wäre er ja nicht hier, lautet die Antwortet. In Budapest hat sich nicht viel verändert, doch kommt er mit der "Nachkriegsnormalität" nicht klar, etwa wenn er aufgefordert wird, aus der Straßen-bahn auszusteigen, weil er keine Fahrkarte vorweisen kann, wie denn auch. Von einem Journalisten gebeten, etwas über die Hölle der Lager zu berichten, sagt György, das könne er nicht, weil er die Hölle nicht kenne und auch nicht weiß, wie sie aussieht. In seinem früheren Wohnhaus trifft er auf alte Bewohner, die ihn freundlich beköstigen und ausfragen. Sie hatten sich den "Gegebenheiten" in einem von den Deutschen besetzten Land angepasst und irgendwie überlebt, weil sie keine Juden waren. Der Held des Romans beschließt, sein "nicht fortsetzbares Dasein" fortzusetzen. Der "Roman eines Schicksallosen" endet mit seinem Entschluss: "Alle fragen mich immer nach Übeln, den ,Gräueln': obgleich für mich vielleicht gerade diese Erkenntnis die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse."

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