Maueröffnung war kein Versehen

Das vor 25 Jahren erschienene Buch von Günter Schabowski "Der Absturz" ist für uns heute immer noch von Belang



Günter Schabowski beschreibt in "Der Absturz" seine Schuld und sein Scheitern als
Diener einer Partei, die sich als Avantgarde der deutschen Arbeiterbewegung ausgab
und seit ihrer Gründung 1946 gebetsmühlenhaft behauptete, alles für das
Wohl des Volkes zu tun und nur sein Bestes zu wollen.




Erich Honecker hat seinen Sturz im Oktober 1989 nie verwunden, sein Bildnis auf hellblauem
Grund kann man auf Trödelmärkten für ein paar Euro kaufen - oder man lässt es sein.




Niemand wollte sich bei der Polizei anstellen, um einen Antrag zur Reise in den Westen
genehmigt zu bekommen. Das war im so genannten Wendeherbst, als das Ende
der SED-Herrschaft abzusehen war, denn doch eine große Zumutung gewesen.




Die streng bewachte und schwer barrikadierte Bornholmer Brücke wurde in der Nacht
vom 9. auf den 10. November 1989 geöffnet. (Foto/Repros: Caspar)

In dem Buch von Burghard Ciesla und Dirk Külow "Zwischen den Zeilen. Geschichte der Zeitung ,Neues Deutschland'" (Das Neue Berlin 2009) finden sich Informationen, wie das Politbüromitglied, 1. Bezirkssekretär Berlin der SED und von 1978 bis 1985 Chefredakteur des ND Günter Schabowski im "Wendeherbst" 1989 versucht hat, der Harald Wessel zum neuen ND-Chefredakteur als Nachfolger von Herbert Naumann zu machen und wie die Redaktion dagegen opponierte. Bei der großen Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz wurde ein Plakat hoch gehalten mit dem Spruch "Herbell, Micke, Wessel - wann räumt ihr eure Sessel." Es gab bei diesem Massenprotest mit einer halben Million Teilnehmern auch die Parole "Hebt den Wessel aus dem Sessel." Harald Wessel, der Leiter der Abteilung Wissenschaften im Neuen Deutschland, Buchautor und auch Verfasser von launigen Artikeln im "Magazin", bekam den Posten nicht. Offenbar hatten der "Maueröffner" vom 9. November 1989, Schabowski, und Wessel die Zeichen der Zeit nicht erkannt, dass ideologische Hardliner an der Spitze der damals führenden Tageszeitung in der DDR nichts mehr zu suchen haben.

Der neue Chefredakteur Wolfgang Spickermann übernahm ein leeres Büro. Die nicht mehr auffindbaren Unterlagen wären wichtig für die Klärung der Frage gewesen, wie diktatorisch Staats- und Parteichef Erich Honecker, sein ihm tief ergebener Medienchef im SED-Zentralkomitee Joachim Hermann und weitere Funktionäre in die Belange des Zentralorgans eingegriffen haben. Auf den Fluren und den Redaktionsstuben gab es nach Honeckers Sturz am 18. Oktober 1989 heftige Diskussion über Fehler und Versäumnisse bei der Lenkung der öffentlichen Meinung und die Möglichkeiten, wie die Zeitungsarbeit ohne die elende Gängelung durch die SED-Führung fortgesetzt werden soll. Die Journalisten im Neuen Deutschland und den anderen von der Staatspartei "angeleiteten" Zeitungen in der DDR, aber auch im Rundfunk und Fernsehen, verabschiedeten sich nach und nach von den Drangsalierungen von "oben" und mühten sich, achtungsvoller als bisher mit der Arbeit der schreibenden, sprechenden und filmenden Kollegen umzugehen.

Das Zauberwort war "ab sofort"

Schabowski erzählt in seinem Buch "Der Absturz", wie es zu seinem berühmten, alles verändernden Ausspruch am Abend des 9. November 1989 kam, die Grenzen seien "ab sofort" offen. "Dass Thema nahm ganze dreieinhalb Minuten von der fast dreistündigen Pressekonferenz in Anspruch. Ich hatte die Maueröffnung bekanntgegeben. Als ich mir anschließend um 19 Uhr den Weg durch die sich am Ausgang ballenden Journalisten bahnte, ahnte ich nicht, was für ein Impuls damit ausgelöst worden war. […] Die bis heute eingetretenen Folgen der von mir überbrachten Botschaft lagen am 9. November jenseits meines Blickfeldes. Hätte mir damals jemand vorgehalten, dass ich mich nach unserem Schritt in weniger als zwölf Monaten zu einem Bundesbürger mausern würde, ich hätte das als eine lächerliche Prophezeiung zurückgewiesen. […] Ich empfand um so mehr Genugtuung über mein Verkündungsrecht, als ich damit einen neuen Fehler berichtigen konnte", schreibt Schabowski und meint damit den Entwurf für ein neues Reisegesetz, der Antragsteller zu Bittstellern bei der Polizei gemacht hätte und auf einhellige Ablehnung stieß.

Eher beiläufig hatte um 18.57 Uhr der neue Medien-Sekretär im SED-Politbüro vor laufenden Kameras die Mitteilung verlesen: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt". Die Ausreisen könnten über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise Berlin-West erfolgen, fügte er hinzu. Dann fiel auf die Frage eines Journalisten, ab wann das geschehen könne, der historische Satz: "Wenn ich richtig informiert bin, nach meiner Kenntnis sofort". Als dieser Schlüsselsatz gefallen war und über westliche Medien verbreitet wurde, gab es für die Ostberliner kein Halten mehr. Viele strömten zu den Grenzübergangsstellen und verlangten durchgelassen zu werden, was ihnen dann auch nach langem Hin und Her von den Grenzsoldaten mit den bekannten Folgen erlaubt wurde.

"Als ich am späten Abend des 9. November den Ausbruch der Freude sah, wurde mir klar, wie instinktlos wir uns an einem elementaren Bedürfnis der Menschen vergangen hatten." Schabowski weist die Behauptung von Egon Krenz zurück, des Nachfolgers von Erich Honecker als Partei- und Staatschef, ihm sei in jener Pressekonferenz ein "kleiner Fehler" unterlaufen, als er das Schlüsselwort "ab sofort" sprach, und er geht auch an andere Stelle auf alle möglichen Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit jenem Auftritt vor der internationalen Presse ein. "Der 9. November 1989 hält für uns die simple und dauerhafte Wahrheit bereit: Wenn eine Gesellschaft, eine Ordnung oder ein System, wie immer man es nennen mag, daran zu Bruch geht, dass die Menschen sich frei bewegen können, dann haben diese Konstruktionen nichts Besseres verdient."

Misswirtschaft, Machtmissbrauch und Korruption

Leider gibt "Der Absturz" keine Hinweise auf Schabowskis Rolle bei der Um- und Neugestaltung des Neuen Deutschland im so genanten Wendeherbst 1989, in dem ähnlich wie in anderen Zeitungen, im Rundfunk und Fernsehen tröpfchenweise ungeheuerliche Einzelheiten über Misswirtschaft, Machtmissbrauch und Korruption im Staat der Arbeiter und Bauern und der SED veröffentlicht wurden. Jetzt trauten sich Journalisten, abseits der Weisungen aus dem Zentralkomitee selber zu recherchieren und Dinge zu veröffentlichen, die den Leuten auf den Nägeln brennen und nichts mehr mit der bisher üblichen öden Hofberichterstattung, Geschichtsklitterung und Schönfärberei zu tun haben. "Die Teilung Deutschlands hatte das sozialistische Experiment im Osten Deutschlands ermöglicht. Sein Fehlschlagen setzte folgerichtig die Einheit wieder auf die Tagesordnung", schreibt der Verfasser am Ende seines Buches, das seinen für ihn überraschenden, von Honecker verfügten Aufstieg vom Chefredakteur des ND an die Spitze der Berliner Parteiorganisation, aber auch das gar nicht so angenehme Leben in der Funktionärssiedlung Wandlitz und den konfliktgeladenen Umgang der "führenden Persönlichkeiten" untereinander beschreibt. Schabowski geht ausführlich auf die Palastrevolution im Oktober 1989 ein, bei der Honecker und einigen anderen Politbürokraten zur Abdankung gezwungen wurden.

Am 1. November 2015 starb Günter Schabowski in einem Berliner Pflegeheim im Alter von 86 Jahren starb, hat Bundespräsident Joachim Gauck seiner Witwe Irina Schabowski mit warmen Worten kondoliert. Der Eindruck über seine Rolle vor und nach dem Ende der SED-Herrschsaft ist zwiespältig. Denn wenn man seine Reden und Taten als 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin aus der Zeit vor der so genannten Wende liest, dann zeigt sich, dass er ein schlimmer Einpeitscher der Honecker'schen Repressions- und Lügenpolitik war. Doch hat Schabowski die "Kurve" früher als andere gekriegt und besser als viele seiner Genossen erkant, wohin der "Hase" läuft. Das trug Günter Schabowski in den eigenen Kreisen Verachtung als "Renegat" ein, und manche Leute, die zur Elite von damals gehörten, verzeihen ihm bis heute nicht, dass er die Mauer "geöffnet" hat.

20. September 2016

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