"Gequake wildgewordener Spießer"

Warum ein wutentbrannter Erich Honecker 1988 das sowjetische Magazin Sputnik verbot und was seine Untertanen von der Zwangsmaßnahme hielten





Das Oktoberheft 1988 des sowjetischen Digest (oben) brachte Honecker
so in Rage, dass er die Auslieferung an die Leser in der DDR
verbot und ihnen auch weitere Ausgaben vorenthielt, ohne zu ahnen,
dass die Maßnahme ihm viel Ärger einbringen würde. Die bunten
Hefte des Sputniks erfreuten sich in der DDR großer Beliebtheit,
weil dort manches stand, was man in der von der SED "angeleiteten"
Einheitspresse nicht zu lesen bekam.




Der allmächtige SED- und Staatschef Erich Honecker ist auf einem
Porzellanteller im Besitz des Deutschen Historischen Museums Berlin
dargestellt, vermutlich ein Gastgeschenk ausländischer Besucher.
(Repros/Foto: Caspar)


Glasnost und Perestroika waren Prinzipien, die den sowjetischen Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow zu einem von den einen geliebten, von den anderen gehassten Reformer und Umgestalter seines Reiches und der ihm angeschlossenen Satellitenstaaten werden ließ. Das Honecker-Regime in der DDR war auf Gorbatschow und seine Politik ungeachtet anderslautender Bekundungen nicht gut zu sprechen und verhinderte mit allen Mitteln, doch begrenztem Erfolg peinliche Nachrichten aus dem sich erneuernden "Bruderland". Nach Jahrzehnten politischer und geistiger Unterdrückung und Stagnation wehte dort ein frischer Wind, und es durften Wahrheiten gesagt und gedruckt werden, deretwegen man vor Gorbatschow noch ins Gefängnis gekommen wäre oder sein Leben verloren hätte.

Eines der Sprachrohre von Glasnost und Perestroika war das Monatsmagazin Sputnik, benannt nach dem piepsenden Satelliten, mit dem die Sowjetunion 1957 das Zeitalter der Weltraumforschung eröffnet hatte. Die deutsche Ausgabe wurde eifrig auch in der DDR gelesen. Doch als in dem bunten Digest während der Gorbatschow-Ära ab 1985 immer mehr und ziemlich ungeschminkt über Einzelheiten über den Stalin-Terror berichtete und sogar Vergleiche zwischen den Opfern seiner Diktatur und denen Hitlerdeutschlands anstellte, war für Honecker das Maß voll. Diese neue Offenheit brachte den SED-Chef und Staatsratsvorsitzenden der DDR so in Rage, dass er persönlich und, wie später bekannt wurde, gegen den Rat aus seiner Umgebung den Vertrieb der deutschsprachigen Ausgabe 10/1988 unterband und fortan die Belieferung der Abonnenten einstellen ließ.

Verzerrende Beiträge zur Geschichte

Der eigentlich zuständige Postminister Rudolph Schulze las in der Zeitung diese von Honecker persönlich formulierte ADN-Meldung "Wie die Pressestelle des Ministeriums für Post- und Fernmeldewesen mitteilt, ist die Zeitschrift Sputnik von der Postzeitungsliste gestrichen worden. Sie bringt keinen Beitrag, der die Festigung der deutsch-sowjetischen Freundschaft dient, statt dessen verzerrende Beiträge zur Geschichte".

Die verbotene Sputnik-Ausgabe befasste sich mit dem Thema "Stalin und der Krieg", versinnbildlicht auf dem Titelblatt durch zwei Stiefel, die eine Blumenwiese zertrampeln. Die Autoren rechneten mit klar zutage liegenden Fehlern, Versäumnissen und Verbrechen des sowjetischen Diktators vor und während des Zweiten Weltkrieges ab. Er hatte aus Angst vor Konkurrenz kriegserfahrene Generäle ermorden lassen und im August 1939 einen dubiosen Nichtangriffs- und Freundschaftsvertrag mit Hitlerdeutschland abgeschlossen. Überdies hatte er geheimdienstliche Hinweise über den deutschen Angriff am 22. Juni 1941 vom Tisch gewischt und sich manch andere Fehler erlaubt, die in der von Hitlerdeutschland angegriffenen Sowjetunion große Verluste an Blut und Gut zur Folge hatten. Der Sputnik kam zu dem Schluss, dass der Große Vaterländische Krieg nicht dank Stalin, sondern trotz Stalin durch ungeheute Blutopfer der Soldaten und der Zivilbevölkerung gewonnen wurde.

Zu erörtern, was hinter dieser nebulösen Pressemeldung über das Verbot des sowjetischen Magazins steckt und worin die verzerrenden Informationen bestehen, war in der DDR offiziell nicht erlaubt, wurde dafür aber dort unter der Hand und im Westen ganz offen diskutiert. SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, damals 1. Sekretär der Bezirksleitung Berlin beziehungsweise davor ND-Chefredakteur, kommentierte 1991 den empörenden Vorgang so: "Das Politbüro war nicht befragt worden. Das war ein beispielloser Akt persönlicher Willkür, der nicht nur von den 180 000 Abonnenten als eine rabiate politische Entmündigung aufgefasst wurde, sondern auch die gesamte alte SED-Führung nachhaltig diskreditierte."

Die mit fadenscheinigen Argumenten begründete Maßnahme löste heftige Debatten aus und brachte unzählige erboste DDR-Bewohner zu der Frage, warum Honecker & Co. die Wahrheit über Stalins Mordmaschine sowie weitere in dem Magazin beschriebene Gebrechen des Sowjetsystems unterdrückt. Für den damals mächtigsten Mann in der DDR war der Vorgang überhaupt nicht peinlich. Er ging in die Offensive und sprach Anfang Dezember 1988 in einer Rede vor dem Zentralkomitee vom "Gequake wildgewordener Spießer", welche die Geschichte der KPdSU im bürgerlichen Sinne umschreiben möchten. Der Partei- und Staatschef diffamierte das in vielen Parteiversammlungen und Leserzuschriften bekundete Unverständnis für das Sputnik-Verbot als quasi vom Klassenfeind gesteuerte antikommunistische Kampagne.

Lüge tröstet, ist aber nicht von Dauer

Der damals noch allmächtige Honecker setzte noch eins drauf, als er sich in seiner Rede auf eine offenbar bestellte oder sogar erfundene Zuschrift eines linientreuen Genossen bezog, der die Parteiführung aufforderte: "Setzt diese gute Politik fort". In einem Brief an den für Agitation und Propaganda, also die Medien, zuständigen ZK-Sekretär Joachim Herrmann hatte der Schreiber behauptet, man habe den Eindruck, als bestünde die ruhmreiche Geschichte des Sowjetvolkes nach Lesart des Sputnik nur noch aus Stalins Mordtaten und Breschnews Stagnation. "Die Geschmacklosigkeit und das Verlassen des Bodens marxistisch-leninistischer Geschichtsschreibung geht so weit, dass Stalin und Hitler gleichgesetzt werden. Für ein Volk, das so ruhmreich gegen den Faschismus und unter dem Blutzoll von 20 Millionen Menschenopfern gestritten hat, sowie für jeden Antifaschisten eine Zumutung". Die meisten Leser des Sputnik seien Leute, die sich hochnäsig zur Politik unserer Partei verhalten, die alles "besser" wissen und in der "westlichen Freiheit" ihr politisches Vorbild sehen. Sie seien Spießer und Nörgler, die den Wohlstand, den der Sozialismus bietet, besitzen, sich aber gesellschaftlich nicht engagieren und parteiliche Haltung als lästig empfinden, fuhr jener Genosse in denunziatorischem Ton fort und spielte damit dem Parteichef direkt in die Hände.

Nach dem Ende der SED-Herrschaft hat sich der von Honeckers Selbstherrlichkeit überrumpelte DDR-Postminister Rudolph Schulze (DDR-CDU) für die Einziehung des Magazins entschuldigt. Anfang 1990 wurde sogar ein Sonderheft gedruckt und ausgeliefert, in dem die besten Artikel vom Oktober 1988 bis Oktober 1989 zu lesen waren. Die Sputnik-Redaktion betonte in einem Editorial, der Weg zur Wahrheit, Offenheit und Selbsterkenntnis sei noch nie einfach gewesen. "Lüge tröstet, doch dieser Zustand kann nicht von langer Dauer sein".

(2. Mai 2016)

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