Plötzlich war Stalin kein Klassiker mehr

Mit der Abkehr von dem sowjetischen Diktator ließ man sich in der DDR viel Zeit



Die Propaganda preist auf diesem Plakat Stalin als Übervater und allwissenden
Staatenlenker, der der Roten Armee den Weg nach Nazideutschland weist.




Selbstverständlich blendet diese Skulptur aus, dass der aus Georgien
stammende allwissende Stalin seine Herrschaft auf den Knochen
von Millionen nach seinen Befehlen ermordeten Untertanen errichtet hat.




Walter Ulbricht zeigt seinem Gast Nikita Chruschtschow mit einer für ihn typischen
Geste, wohin es nach seiner Meinung lang gehen soll. Seine Besserwisserei
gegenüber dem "großen Bruder" kostete dem SED- und Staatschef 1971 die Macht.




In der DDR war das Studium des Marxismus-Leninismus obligatorisch, und so
lange es möglich war auch das der Lehren des "Großen Stalin". (Repros: Caspar)


"Neigt euch vor ihm in ewigem Gedenken! / O sag auch du, mein Deutschland, Stalin Dank. / Er kam, ein neues Leben dir zu schenken, / Als schon dein Land in blut´gem Schutt versank. / Er kam, aus deiner Not dich zu erretten, / Wo immer neues wächst, gedenke sein. / Hochhäuser ragen über Trümmerstätten / Und ihr Willkommen lädt uns herzlich ein. / Es wird ganz Deutschland einstmals Stalin danken. / In jeder Stadt steht Stalins Monument." So beginnt eine gereimte Danksagung, die Johannes R. Becker, der DDR-Dichter und Autor der Hymne des zweiten deutschen Staates, zum Tod des sowjetischen Dikators Josef Stalin schrieb. Überall wird Stalin sein, sah Becher voraus, in Kiel wird ein Student ihn erkennen, die Fluten des Rheins erzählen von ihm, "und durch den Schwarzwald wandert seine Güte, / Und winkt zu sich heran ein scheues Reh. [...]. Allüberall, wo wir zu denken lernen / Und wo man einen Lehrsatz streng beweist. / Vergleichen wir die Genien mit den Sternen, / So glänzt als hellster der, der Stalin heißt. [...] Stalin: so heißt ein jedes Friedenssehnen. / Stalin: so heißt des Friedens Morgenrot, / Stalin beschwören aller Mütter Tränen: / ,Stalin! O ende du des Krieges Not.'" In der Eloge auf den großen Staatenlenker und Parteiführer, Generalissimus und Befreier der Welt von der Hitlerfaschismus, den nimmermüden Kämpfer für die Weltrevolution, Erben von Lenin und wie immer man Stalin verherrlichte geht es in diesem Ton weiter.

Der Dichter hat in seinem Stalin-Gedicht von 1953 an Klischees nichts ausgelassen. Er sieht den Unsterblichen nicht nur durch die Dresdener Galerie, sondern auch durch Betriebe an der Ruhr gehen und den Kölner Dom betrachten. Stalin ist überall, sogar am (west-)deutschen Rhein. Für den Dichter steht fest, dass "Deutschland einig Vaterland" nur ein kommunistisches Reich sein kann, in dem Stalins "Genius" und seine Lehren allgegenwärtig sind. Das klang in den Ohren der ostdeutschen Stalinisten wunderbar, wurde aber in der Honeckerzeit nach 1971 ausgeblendet, als deutsch-deutsche Abgrenzung angesagt war und das Staatslied nicht mehr gesungen werden durfte. Becher und mit ihm andere Schönredner und Schönmaler sollen sich später ihrer Lobessprüche auf Stalin geschämt haben.

Stalins Vasall in Ostberlin, Walter Ulbricht, und seine Anhänger waren entsetzt und höchst verunsichert, als sie 1956 von Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU hörten, in der eine vorsichtige Abrechnung mit Stalins Verbrechen vorgenommen wurde. Ihm und seinen Genossen steckte noch die mit sowjetischer Waffenhilfe blutig niedergeschlagene Erhebung vom 17. Juni 1953 in den Knochen. Der von der SED ausgerufene "Neue Kurs" hatte nichts gebracht, die Daumenschrauben wurden noch mehr angezogen, die Staatssicherheit verhaftete in Stalinscher Manier unzählige Menschen aufgrund fadenscheiniger Beschuldigungen, und die Zwangskollektivierung auf dem Lande führte zu der bisher umfangreichsten Fluchtbewegung über die damals noch offene Grenze. Voller Besorgnis schaute die ostdeutsche Partei- und Staatsführung in ihrer Angst vor Veränderung nach Polen und nach Ungarn, wo das Volk freie Wahlen, demokratische Verhältnisse und neue Regierungen forderte.

Falscher Genosse Gott

Ulbricht und Genossen befanden sich in der Zwickmühle. Wie sollte sie der Bevölkerung sagen, dass man jahrelang einem falschen "Genossen Gott" gefolgt war. Einzelheiten über den Personenkult und Dogmatismus, wie man euphemistisch Stalins Verbrechen umschrieb, ließen sich auf Dauer nicht verheimlichen. Niemand in der Parteispitze, schon garnicht der im Volk unbeliebte Sachse mit Spitzbart und Fistelstimme, der hinter jeden Satz ein sinnloses "Nuuu" setzte, wagte ehrliche Kritik am eigenen Versagen, obwohl laut Kritik und Selbstkritik ja das Lebenselixier eines jeden Kommunisten sein sollten. Das Parteivolk wurde mit erst mit Schweigen, dann mit ausweichenden Informationen abgespeist. Zähneknirschend räumte die Parteiführung ein, es habe "Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit" gegeben. Einzelheiten über Umfang und Art der Verbrechen blieben aber ungenannt.

Walter Ulbricht versuchte es mit Spott, was aus seinem Munde besonders komisch klang. Vor der Berliner Parteiorganisation machte er sich über "junge Genossen" lustig, die "die im Parteilehrjahr bestimmte Dogmen auswendig gelernt haben und nun erleben, dass einige Dogmen nicht mehr ins Leben passen. Aber jetzt sagen manche nicht etwa, der Dogmatismus ist nicht richtig, sondern da stimmt etwas im Leben nicht". Mit "Heiterkeit" quittierten die Zuhörer die Ausfälle ihres Chefs und vergaßen, dass sie selber Stalins Worte ständig nachgebetet hatten. Plötzlich war der Diktator kein "Klassiker" mehr.

Nach damaligen Stasi-Berichten wurde im Lande die Abkanzelung der jungen Genossen durch den SED-Chef übel aufgenommen. Man fühlte sich verschaukelt, hatte es doch vor nicht langer Zeit keine Rede 1. Sekretärs gegeben, in der die Weisheit des Großen Führers nicht gepriesen worden war. Es sollte noch Jahre dauern, bis klammheimlich das Stalindenkmal in der Berliner Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee, abgebaut und Stalinstadt in Eisenhüttenstadt umbenannt wurde. Nie aber wurde stalinistisches Denken in der DDR-Führung überwunden, weder bei Ulbricht noch bei seinem Nachfolger Honecker.

Ein Nagel am Sarg der DDR

Auch wenn von ihm nicht mehr die Rede war, saß Stalin bei allen Entscheidungen mit am Tisch, genauso wie es Becher und andere Dichter beschrieben hatten. Als es Michail Gorbatschow Mitte der achtziger Jahre in der Sowjetunion mit Glasnost und Perestroika versuchte, das schlimme Erbe der Stalin-Ära aufzuarbeiten, reagierten der Oberstalinist Erich Honecker und sein Anhang ausgesprochen sauer. Das Verbot des sowjetischen Magazins "Sputnik" 1988, in dem die Opfer von Hitler und die von Stalin gegenübergestellt und Einzelheiten der Verbrechen und Schauprozesse schonungslos offengelegt wurden, war Ausdruck dieser Unsicherheit und zugleich ein Nagel für den Sarg, in dem die DDR schließlich zu Grabe getragen wurde.

Bei der unumgänglichen Selbstkritik wurde alles getan, um nicht das eigene System infrage zu stellen. Der Begriff Personenkult wurde nur im Zusammenhang mit gewissen Schwächen in Stalins Charakter benutzt, auf sich selber bezogen ihn Ulbricht und Honecker selbstverständlich nicht. Ansonsten wurde stets betont, dass es Stalin, dem überragenden Heerführer zu verdanken sei, das Hitlerregime überwunden zu haben, wobei der Anteil der Westalliierten schlicht übersehen wurde. Das Politbüro stellte bis zum Ende der SED und der DDR stets in Abrede, dass es in der Staatspartei solche gesetzeswidrige "Auswüchse" gab. In der Sowjetunion, der DDR und den anderen Bruderländern ging die Aufarbeitung der Verbrechen von Stalin nur so weit, dass man den Diktator mangelnde Bescheidenheit und die Unfähigkeit vorwarf, im Kollektiv zu arbeiten. Erst im Oktober 1989 getrauten sich Krenz, Schabowski und andere SED-Politbürokraten, Honeckers Fähigkeiten, das Land zu regieren, in Frage zu stellen und ihren bisherigen Meister abzusetzen, der ein unbelehrbarer Stalinist war und einen üblen Kult um seine Person pflegte.

1. Juni 2016

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