"Köpfchen senken, an Stalin denken"
Vor 60 Jahren kratzte Nikita Chruschtschow vorsichtig am Bild des sowjetischen Übervaters und Massenmörders



Josef Stalin, der Nachfolger Lenins, der nie alternde, allwissende Staatenlenker
und Sieger über Hitler. Das Propagandaplakat stammt aus dem Jahr 1952.




In der frühen DDR mussten Schüler, Studenten und andere Leute die Klassiker
des Marxismus-Leninismus sowie die Schriften von Stalin büffeln und auswendig hersagen.




Auf einem Berliner Trödelmarkt ist diese Stalin-Büste gelandet, zu Lebzeiten
des Diktators wäre diese Blasphemie schwer bestraft worden. (Foto/Repro: Caspar)



Als am 5. März 1953 der sowjetische Diktator Josef Stalin mit 71 Jahren starb, erreichten Beileidsbekundungen und Selbstverpflichtungen für neue Höchstleistungen das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Und auch die unter sowjetischer Oberhoheit stehenden Satellitenstaaten überschlugen sich in Trauergesängen für den nun im Lenin-Mausoleum am Roten Platz in Moskau aufgebahrten Diktator. In den Schulen der DDR hieß es "Köpfchen senken, an Stalin denken", wer über den Verstorbenen Witze riss, hatte nichts zu lachen.

Jahrzehntelang hatte die kommunistische Propaganda das Bild vom menschenfreundlichen, allwissenden und wirkmächtigen "Väterchen Stalin" gemalt, dem allein und ausschließlich der Sieg über Hitlerdeutschland zu verdanken war. Wer nicht persönlich von seinen Verbrechen betroffen war, sondern vom System Stalin profitiert hatte, mag an dieses Märchen geglaubt haben. Die vielen anderen aber, die unter seiner Herrschaft gelitten und ihr Leben verloren hatten, hofften vergeblich auf ein neues, besseres Leben, aus ein Leben im Zeichen des Tauwetters. Stalins Tod unterbrach in Moskau die Vorbereitungen für neue Schauprozesse im Stil der Verfahren in den 1930-er Jahren. Gegen Ende seines Lebens mutmaßte der Kreml-Herrscher, dass sich Ärzte gegen ihn verschworen haben, und ausserdem witterte er überall amerikanische Spione. Die Verfahren wurden eingestellt, später hat man im Zeichen der so genannten Entstalinisierung unzählige Menschen rehabilitiert. Den vielen erschossenen oder in den Arbeitslagern und Zuchthäusern ums Leben gekommenen Stalin-Opfern aber hat das nichts mehr genutzt. Unter ihnen waren auch deutsche Kommunisten, die vor den Nazis in die Sowjetunion geflüchtet waren.

Stalin, der Lenin unserer Tage und weise Führer aller Werktätigen, wie er sich gern nennen ließ, hatte absichtlich für eine regelte Nachfolge nicht gesorgt. Aus dem Gerangel um die Macht kristallisierte sich schon bald Nikita Chruschtschow heraus, einer der engsten Genossen des Diktators und drei Jahre später auch sein erster vorsichtiger Kritiker. Der ehemalige KP-Chef der Ukraine war Mitglied des Politbüros der KPdSU und damit an der sowjetischen Innen- und Außenpolitik und den Verbrechen der Stalinzeit beteiligt. Er bootete den langjährigen Geheimdienstschef Lawrentij Berija aus, der sich bei den Stalinschen Verfolgungen die Hände besonders blutig gemacht hatte und, als er den Machtkampf verloren hatte, Ende 1953 kurzerhand erschossen wurde.

Stalin starb in der Zeit des Kalten Kriegs, in einer Zeit höchst gefährlicher Konfrontation zwischen Ost und West. Doch nicht die Rücksicht auf die instabile Weltlage mag die neuen Kreml-Herren davon abgehalten haben, ehrlichen Herzens mit ihrem bisherigen Idol ins Gericht zu gehen. Sie wussten, dass jedes erklärende Wort auf sie selber zurückfallen würde. Doch ließ sich die Wahrheit nicht auf Dauer unter der Decke halten. In internen Parteizirkeln nahm man schon bald nach Stalins Tod zur Kenntnis, dass Lenin, der Gründer des Sowjetstaates, vor dem intoleranten, aufbrausenden, machtgierigen Aufsteiger gewarnt hatte, der für seine Nachfolger in der Parteiführung ungeeignet ist. Erst unter Michail Gorbatschow, der 1985 Parteichef wurde, wagte man im Zuge von "Glasnost und Perestroika", auch öffentlich auf diese Warnungen hinzuweisen und die Millionen Toten zusammenzurechnen, die auf Stalins Konto gingen.

In einer Geheimrede umschrieb der neue Parteiführer Nikita Chruschtschow vor 60 Jahren, am 25. Februar 1956, auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion Stalins Verbrechen vorsichtig mit Begriffen wie Personenkult, Dogmatismus und Vergehen gegen die sozialistische Gesetzlichkeit. Dass die Rede geheim blieb und nur auf Umwegen ins westliche Ausland gelangte und dort zum Entsetzen der Sowjetführer publiziert wurde, spricht Bände. Chruschtschow sagte, es sei unzulässig und dem Geist von Marx, Engels und Lenin völlig fremd, eine einzelne Person herauszuheben und sie in eine Art Übermensch mit übernatürlichen, gottähnlichen Eigenschaften zu verwandeln. "Eine solche Vorstellung über einen Menschen, konkret gesagt über Stalin, war bei uns viele Jahre lang verbreitet", erklärte der Redner, der selber an dem Mythos gearbeitet hatte und sich

Ungeniert verband der neue Parteichef seine Ausführungen mit einer Verbeugung vor dem toten Sowjetführer, über dessen Verdienste "noch zu seinen Lebzeiten eine völlig ausreichende Anzahl von Büchern, Broschüren, Studien verfasst (wurde). Allgemein bekannt ist die Rolle Stalins bei der Vorbereitung und der Durchführung der sozialistischen Revolution, während des Bürgerkrieges sowie im Kampf um die Errichtung des Sozialismus in unserem Lande. Darüber wissen alle gut Bescheid", sagte Redner, den offenbar Zweifel an dieser mit hohen Menschenopfern verbundenen Politik nicht ankamen. Die ganze Wahrheit, die Wahrheit der Schauprozesse und Massenhinrichtungen, die Bolschewisierung der Landwirtschaft und Industrie, die Liquidierung der geistigen Elite des Landes, die verlustreiche Umsiedlung von ganzen Völkerschaften, der Fehler des Generalissimus vor allem zu Beginn des Zweiten Weltkrieg sowie die Annexion und Unterdrückung jener Länder, die unter seine Fuchtel gerieten - das konnte und durfte nicht angesprochen werden. nun seinerseits zum Halbgott erheben ließ.

Die Frage, "wie sich allmählich der Kult um die Person Stalins herausgebildet hat, der in einer bestimmten Phase zur Quelle einer ganzen Reihe äußerst ernster und schwerwiegender Entstellungen der Parteiprinzipien, der innerparteilichen Demokratie und der revolutionären Gesetzlichkeit wurde", beantwortete Stalins früherer Handlanger vorsichtshalber nicht. Er hätte bei sich selber anfangen und seine Rolle in der Parteiführung beschreiben müssen. Dass das "System Stalin" auf Terror und Gewalt basierte und weiterhin unter anderem Namen auch nur so funktioniert, nämlich auf der Unterdrückung des Individuums und ganzer Völkerschaften, war Basis auch von Chruschtschows Machterhalt und daher für ihn kein Thema.

Stalin, Stalin über alles - so kann man den Kult um den sowjetischen Diktator beschreiben, der in den frühen fünfziger Jahren in der DDR seltsame Blüten trieb. Der Generalissimus, von dem man nur geglättete, jugendlich und kraftstrotzend wirkende Bilder kannte, war nicht nur Abgott der SED- und Staatsführung, er war auch bevorzugtes Objekt der gelenkten Propaganda sowie von Reimeschmieden wie Johannes R. Becher, Stefan Hermlin und Kuba. Sie produzierten peinliche Hymnen auf den siegreichen Feldherrn über Hitlerdeutschland und Erbauer des Kommunismus auf einem Sechstel der Erde, wie man damals sagte. Wenn man heute diese Gedichte liest und die Lieder hört muss man sehr an sich halten um nicht zu lachen. Dabei waren diese Werke ernst, ja todernst gemeint, und wer sich über sie lustig machte, bekam es mit der Sowjetmacht und ihren ostdeutschen Ablegern zu tun. Was einmal gedruckt ist, kann nicht mehr getilgt werden, es kursiert und bleibt präsent. Und so mögen sich einige eifrig um Stalins literarische Vergötterung bemühte Schreiber schon bald ihrer Worte geschämt haben, nachdem ihr großes Vorbild nicht mehr en vogue war.

Johannes R. Becher, der Autor der DDR-Hymne mit der Anfangszeile "Auferstanden aus Ruinen" verstieg, beschrieb, wie Stalin mit Marx und Engels durch Stralsund geht und in Rostock die Traktoren überprüft, wie er die Betriebe an der Ruhr besucht und mit Bauern spricht, wie sich in Dresden die Bilder einer Galerie vor ihm verneigen. "Mit Lenin sitzt er abends auf der Bank, / Ernst Thälmann setzt sich nieder zu den beiden. / Und eine Ziehharmonika singt Dank, / Da lächeln sie, selbst dankbar und bescheiden". Stalin ist überall, auch in Westdeutschland, das eines Tages von seinen imperialistischen Unterdrückern befreit sein wird, lautet die Botschaft dieses "Danksagung" genannten Becher-Hymnus, in dem es weiter heißt "Und kein Gebirge setzt ihm eine Schranke, / Kein Feind ist stark genug, ihm zu widerstehn / Dem Mann, der Stalin heißt, denn sein Gedanke / Wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn". In schaler Erinnerung bleibt Bechers Vorstellung, dass die Fluten des Rheins und der Kölner Dom von Stalin erzählen. "Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte / Und winkt zu sich heran ein scheues Reh." Das Gedicht endet mit dieser Vision: "In Stalins Namen wird sich Deutschland einen. / Er ist es, der den Frieden uns erhält. / So bleibt er unser und wir sind die Seinen, / Und Stalin, Stalin heißt das Glück der Welt. / Die Völker werden sich vor dir erheben, / Genosse Stalin, und zu dir erhebt / Mein Deutschland sich: in unserm neuen Leben / Das Leben Stalins ewig weiterleben." Auch andere Künstler waren dabei, das Bildnis ihres Übervaters zu verbreiten. Ihre Gemälde, Denkmäler und Büsten landeten auf dem Müllhaufen der Geschichte, sind dann und wann aus Auswüchse eines seinerzeit penetrant betriebenen Heldenkults allenfalls noch in Kuriositätenkabinetten der großen Museen gezeigt - und vom Publikum, wenn überhaupt, wahrgenommen.

Die ziemlich allgemein gehaltenen Enthüllungen auf dem XX. Parteitag der KPdSU läuteten eine vorsichtige Demontage Stalins auch in der DDR und anderen sozialistischen Staaten ein. Der ehemalige Halbgott war nun kein "Klassiker" mehr. Lange daher gebetete Sprüche waren Makulatur, doch der Geist des toten Diktators blieb in vielen Köpfen fest sitzen. Die Parteiführung hüllte sich lange in Schweigen, sprach von Entgleisungen und von Personenkult rund um den bis dato hymnisch verehrten Genossen Stalin. Erst 1961 wurde Stalinstadt in Eisenhüttenstadt umbenannt, während die Berliner Stalinallee den Namen Karl-Marx-Allee erhielt und das dort vor einer Sporthalle aufgestellte Stalindenkmal abgebaut wurde. Angeblich sollen aus der Bronze Figuren für den Tierpark in Berlin-Friedrichsfelde gegossen worden sein. Am 17. Juni 1953 wurden in der DDR beziehungsweise drei Jahre später in Ungarn und Polen und dann 1968 auch in der damaligen ?SSR Volksbewegungen für mehr Demokratie und Überwindung stalinistischer Verkrustungen niedergeschlagen. Trotz verbaler Bekundungen für mehr Demokratie und Mitbestimmung wurde, um bei der DDR zu bleiben, stalinistisches Denken nicht überwunden, weder bei Ulbricht noch bei seinem Nachfolger Honecker.



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