"Dem Gegner keine Chance"

Erschütternde Berichte über die "Zuführungen" von ostdeutschen Demonstranten im Oktober 1989



Eine Stele auf dem Berliner Lustgarten schildert, was sich hier rund
um den 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1989 abgespielt hat.




In Leipzig wünschten Demonstranten Egon Krenz, Honeckers Nachfolger als
Partei- und Staatschef, er möge sich vom Acker machen.




In diesem Buch und weiteren Publikationen aus den Jahren 1989/90 und
danach ist dokumentiert, mit welcher Brutalität Stasi, Polizei und
Justiz gegen Oppositionelle vorgegangen sind und wer die Verantwortlichen waren.




Vor dem Haus des Lehrers auf dem Berliner Alexanderplatz wurde unnachsichtige
Aufklärung der Übergriffe im Oktober 1989 gefordert. (Foto/Repros: Caspar)

Im Vorfeld des 40. Jahrestags der DDR hatten die Sicherheitsorgane genau festgelegt, was in Ostberlin beim Aufscheinen von Widerstand zu tun ist. Stasi-Minister Mielke befahl am 5. Oktober 1989 in einem Fernschreiben an die Leiter der Diensteinheiten seines Ministeriums, "die Anreise aller Personen, von denen Gefahren ausgehen können, nach der Hauptstadt der DDR, Berlin, während des Aktionszeitraums unter Nutzung aller Möglichkeiten und mit allen Mitteln zu verhindern." Die Wirksamkeit aller Vorkehrungen und Maßnahmen zur Sicherung der Veranstaltungen seien mit dem Ziel des rechtzeitigen Erkennens jeglicher provokatorisch-demonstrativer Handlungen, der Formierung und Ansammlung feindlich-negativer Kräfte nochmals gründlich zu überprüfen, und es seien weitere Reservekräfte bereitzustellen. "Dem Gegner keine Möglichkeit geben, dort aktiv zu werden, wo er annimmt, dass wir nicht da sind".

Wer nun war der "Gegner", der sich in Berlin, Leipzig, Karl-Marx-Stadt (Chemnitz), Halle, Erfurt und Potsdam zusammengerottet hatten, wie es Erich Honecker unter Weglassung weiterer Städte, z. B. Plauen, am 8. Oktober 1989 in einem Fernschreiben an die 1. SED-Bezirkssekretäre formulierte? Gab es überhaupt Krawalle, und was geschah mit den Verhafteten? Wir sind ziemlich genau über die Vorgänge rund um den 7. Oktober 1989 in Ostberlin und in anderen Städten informiert, es gibt erschütternde Berichte von Augenzeugen und Betroffenen über die Brutalität und die Menschenverachtung, die Stasi-Leute und Volkspolizisten bei der Auflösung von Protestmärsche und bei den so genannten Zuführung an den Tag legten.

Hoffnung für das kranke Land

Noch im Oktober 1989 veröffentlichte der Berliner Maler und Grafiker Manfred Butzmann eine hektografierte Broschüre mit dem Titel "Ich zeige an. Berichte von Betroffenen zu den Ereignissen am 7. und 8. Oktober 1989 in Berlin". Das 150-seitige Heft beginnt mit dem Zitat von einem handgeschriebenen Zettel, den junge Leute verbreitet hatten und in dem gefordert wurde: "Werdet aktiv! Tausende Bürger verlassen unser Land, Demonstrationen werden niedergeknüppelt, eine Opposition ist illegal. Eine greise starre Regierung feiert sich in unglaublicher, verdächtiger Weise (Fackelzug usw.), stellt sich: blind - taub - stumm. Nur wenn wir alle endlich den Mund aufmachen und gemeinsam handeln, gibt es für unser krankes Land Hoffnung". Die Broschüre enthält zahlreiche Gedächtnisprotokolle von Frauen, Männern und Jugendlichen, die auf Lastkraftwagen geprügelt wurden und stehend, die Gesichter zur Wand gerichtet, wie Schwerverbrecher in Garagen und auf kalten Gefängnisgängen festgehalten wurden, ohne dass sie etwas zu essen und zu trinken bekamen und ohne dass sie auf eine Toilette gehen durften. Die Berichte der Verhafteten, deren Namen der Redaktion bekannt waren, sind präzise und glaubwürdig. Sie wurden von Butzmann, der selber zu den Betroffenen gehörte und geschlagen wurde, zur Grundlage einer Anzeige gemacht. Es soll Volkspolizisten gegeben haben, notiert Butzmann, die die Beteiligung an den Einsätzen abgelehnt haben. "Beweisen wir auch ihnen unsere Solidarität, wie sie auch uns bewiesen wurde, von Christen, von Kollegen und Genossen, Genossen also, deren Mitgefühl größer war als ihre Parteidisziplin." Die Berichte noch ganz unter dem Eindruck der Prügelszenen, des stundenlangen Wartens in zugigen Räumen, der Beleidigungen, des Entzugs von Essen und Trinken sowie unbeschreiblicher hygienischer Zustände im Gefängnis Rummelsburg und an anderen Orten in Berlin zeigen dies klar und unmissverständlich: Hier wollte das Regime Stärke zeigen und abschrecken. Es machte keinen Unterschied zwischen Demonstranten auf der einen Seite und einigen Randalierern, die es natürlich auch gab und die es auf Prügeleien mit der Polizei und Stasi abgesehen hatten. Verhaftet und drangsaliert wurden völlig unbeteiligte Bürger, die zufällig im Prenzlauer Berg unterwegs waren und in eine Polizeifalle gerieten, und auch solche, die wegen ihrer Kleidung oder Frisur von Sicherheitsleuten als feindlich-dekadent eingestuft wurden und deshalb in den Strudel der Gewalt gerieten.

Die Verfassung interessiert mich nicht

Aus den Anklagen ist immer das Gleiche zu erfahren: Verhaftung ohne Begründung, Sprechverbot unter Androhung von Schlägen während der Fahrt zum Zuführungsort, dort stundenlanges Stehen, Zwangsaufenthalt in überfüllten Zellen, Leibesvisitationen und erniedrigende Verhöre - und irgendwann Entlassung ohne ein Wort des Bedauerns und der Entschuldigung. Eine schwangere Frau berichtete von Schlägen gegen ihren Bauch, eine andere Frau wurde geprügelt, als sie zu ihrem Kind wollte. "Als sie dann laut weinte und weiter nach ihrem Kind rief, wurde sie aus der Zelle geholt, vor unseren Augen mit äußerster Brutalität zu Boden geprügelt, wobei sie von einem Polizisten am Genick festgehalten und zu Boden geworfen wurde und die anderen beiden wahllos mehrere Minuten auf sie einschlugen. […] Als ich nach 24 Stunden Gewahrsam zusammen mit mehreren Frauen darum bat, einen Anwalt sprechen zu dürfen, da uns der Anwalt lt. Verfassung der DDR zusteht, wurde uns von einem VP-Meister erklärt ,Die Verfassung der DDR interessiert mich nicht, Rechte haben Sie hier unten gar nicht und das Gesetz mache ich selber".

Eine andere Person berichtete in dem genannten Dossier, obwohl die in Rummelsburg Inhaftierten auf ihre Verletzungen aufmerksam gemacht hätten, seien sie ärztlich nicht versorgt worden. Ein "Zugeführter", der sich als polnischer Staatsbürger auswies, sei verhöhnt worden, als er verlangte, seine Botschaft zu benachrichtigen. "Es ist wohl nicht möglich, alle Eindrücke dieser widerrechtlichen Verhaftung zu schildern. Auch ich habe mich bemüht, nur Fakten niederzuschreiben, die ich am eigenen Leibe verspürt oder mit den Sinnen wahrgenommen habe", heißt es in einem der Berichte. "Unbeschrieben bleiben die Gefühle der Erniedringung, der Müdigkeit, des Gestanks, des Sauerstoffmangels, des Durstes, des Hungers. Unbeschrieben blieb auch der Beistand der Inhaftierten untereinander, die tiefe Solidarität, die Hoffnung, dass die Willensbekundung am 8. 10. 1989 uns einen Schritt weiter in die Richtung einer menschenwürdigeren und lebenswürdigeren Gesellschaft gebracht hat."

Selber die Grundfesten des Staates erschüttert

Ähnlich brutal wie in Ostberlin gingen die Ordnungskräfte auch in anderen DDR-Städten gegen Demonstranten vor. In dem von dem Theologen Heinrich Fink, dem damaligen Rektor der Humboldt-Universität zu Berlin, herausgegebenen Buch "Schnauze -Gedächtnisprotokollen 7. und 8. Oktober 1989" sind Rechtsverletzungen aller Art in Berlin, Leipzig und Dresden und die Menschenverachtung des in Agonie befindlichen Regimes dokumentiert. Günter Schabowski, der sich nach der so genannten Wende als Freund von Glasnost und Perestroika ausgab und sich als reumütiger Sünder outete, spielte am 21. Oktober 1989 in internem Kreis die Übergriffe als "nicht beabsichtigte Abweichungen in begrenzter Zahl von den verfassungsmäßigen Normen und nicht mehr" herunter und setzte sich dafür ein, "die Dinge wegzudrücken", also die Untersuchungen auf die lange Bank zu schieben und Gras über sie wachsen zu lassen. Personen wie Heinrich Fink, die Strafanzeige gegen die Prügeltrupps und ihre Hintermänner stellten, wurden aufgefordert, diese zurückzuziehen. "Erschüttert stellte ich bei diesen Gesprächen fest, dass die Ratgeber noch gar nicht begriffen hatten, dass Minister Mielke und seine pünktlich ausgeführten Befehle gegen die Konterrevolution es selber waren, die unseren Staat nun endgültig in den Grundfesten erschüttert hatten", schrieb Fink.

Die Prügelorgien und die Zuführungen haben viele Menschen, die bis dahin loyal zur SED und zur DDR standen, in tiefe Zweifel an der Richtigkeit dessen gebracht, was offizielle Staats- und Parteipolitik war. Mielkes Schlägertrupps sorgten dafür, dass die Zahl derer weiter zunahm, die von der SED-Herrschaft die Schnauze voll hatten. Zerknirscht gestand auf der 10. Tagung des Zentralkomitees der SED am 10. November 1989 der Generalstaatsanwalt der DDR und Kandidat des Zentralkomitees, Günter Wendland, "so etwas" noch niemals untersucht zu haben. Im Zusammenhang mit den Ereignissen um den 7. Oktober sei es zu Übergriffen der Schutz- und Sicherheitsorgane gekommen. "Das waren insbesondere Tätlichkeiten, aber auch Verhaltensweisen gewesen, die die Würde der einzelnen verletzten, im Gewahrsam, bei der Zuführung. […] Es gab Personen, die geschlagen wurden, lange Zeit zum Stehen in zum Teil körperlich schmerzhaften Stellungen gezwungen wurden und die auch erniedrigt wurden." Die hohe Zahl der zugeführten Personen habe zu Staus geführt, so dass ihre Unterbringung auf Fahrzeugen, Garagen und anderen, auch ungeeigneten Räumen geschah, zum Teil ohne Sitzmöglichkeiten und unter unzureichenden sanitären Bedingungen. Exakte Festlegungen über den Gewahrsam und die Unterbringung von Personen in Gewahrsamsräumen seien nicht eingehalten worden.

Kein Wort des Bedauerns

Ein Wort des Bedauerns und der Entschuldigung an die drangsalierten Menschen kam dem Generalstaatsanwalt nicht über die Lippen, lediglich die lapidare Bemerkung, dass er sich gewünscht hätte, eine andere Rede vor dem Zentralkomitee zu halten. Erst am 27. Oktober 1989 verkündete der DDR-Staatsrat eine weitgehende Amnestie für "Straftaten des ungesetzlichen Grenzübertritts", also für so genannte Republikflüchtlinge, sowie für "Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung im Zusammenhang mit demonstrativen Ansammlungen". Vor dem Staatsrat warnte Egon Krenz, eben zu dessen Vorsitzenden gewählt, vor weiteren Demonstrationen. So friedlich sie gedacht und angelegt sein mögen, trügen sie "in dieser komplizierten Zeit immer die Gefahr in sich, anders zu enden, als sie begonnen haben".

Der Vorsitzende des Ausschusses für Nationale Verteidigung und bisherige Abteilungsleiter für Sicherheitsfragen im SED-Zentralkomitee, Wolfgang Herger, schlug vor dem Staatsrat in die gleiche Kerbe. Der frühere Untergebene von Egon Krenz bestätigte, dass es in Dresden, Leipzig und Berlin am 7. und 8. Oktober 1989, also rund um den 40. Jahrestag der DDR, zu Ausschreitungen gekommen sei, "die eindeutig gegen die staatliche Sicherheit und die öffentliche Ordnung gerichtet waren und das friedliche Leben von Bürgern in Gefahr brachten". Rowdys und Gewalttäter hätten aus Menschenansammlungen heraus, die zunächst durchaus friedfertig begannen, verbale und tätliche Angriffe gegen die öffentliche Ordnung und gegen die eingesetzten Ordnungskräfte unternommen. Herger erwähnte Schmährufe wie "Bullen-Schweine", "Stasi-Schweine", "Hängt sie auf" oder, auf die grün uniformierten Polizisten gemünzt, "Wir wollen grüne Leichen sehen". Als Tatwerkzeuge seien Eisenstangen, Eisenkugeln, Totschläger, Brandflaschen, Reiz-Sprays, Steine und Flaschen benutzt worden. Auf den unter den Demonstranten und in der Bevölkerung kursierenden Verdacht, dass sich in die Protestzüge von der Stasi geschickte Provokateure gemischt haben könnten, um die Stimmung weiter anzuheizen und den Sicherheitsleuten eine bessere Handhabe zum Zuschlagen zu geben, gingen er und weitere Funktionäre selbstverständlich nicht ein. Dabei ist aus Dokumenten des MfS bekannt, dass die Einschleusung von V-Leuten in Dissidentengruppen üblich war, um diese zu unterwandern, zu zersetzen und so zu paralysieren. Im Herbst und Winter 1989 wurden einige wenige namentlich bekannte uniformierte Schläger und Schinder vor Gericht gestellt, die ausgesprochenen Strafen standen aber in keinem Verhältnis zu dem, was die den "Zugeführten" physisch und psychisch angetan haben.

14. Oktober 2016

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