Volkswahlen ohne falsche Zahlen

Mit manipulierten Ergebnissen hat die DDR-Führung im Mai 1989 die schlechte Stimmung im Lande weiter angeheizt



Mit großem Tamtam wurde Anfang 1989 die Kommunalwahl vorbereitet
und mit einem demokratischen Mäntelchen versehen.




Als Erich und Margot Honecker am 7. Mai 1989 im Blitzlichtgewitter
zur Wahl schritten, stand das Ergebnis im Wesentlichen schon fest.




Unter kritischen Blicken wurden am Wahlabend die Stimmzettel ausgezählt,
doch im Unterschied zu früher regte sich in Teilen der
Bevölkerung Widerstand gegen frisierte Zahlen.




Der ewig grinsende Egon Krenz trat am 18. Oktober 1989 Honeckers
Nachfolge an. Der Ruf "Wir sind die Fans von Egon Krenz" rettete
ihn und den untergehenden Staat nicht mehr.




Honecker und seine Bilder und das von ihm geführte Regime verschwanden
im Herbst 1989 im Orkus der Geschichte. (Repros: Caspar)

Wahlfälschungen waren traurige Charakteristika von 40 Jahren DDR-Geschichte, die Ergebnisse der Abstimmungen für die Volkskammer und für kommunale Parlamente standen im Vorhinein fest, 99 oder etwas weniger Prozent Ja-Stimmen sollten es stets sein. Ein Witz brachte dies auf den Punkt: "Erich Honecker liest im NEUEN DEUTSCHLAND ,Letzte Nacht frecher Einbruch im Innenministerium'. Der Parteichef ruft dort an und fragt: ,Wurde etwas Wichtiges gestohlen?' ,Halb so wild, Genosse Honecker, nur die Wahlergebnisse für die nächsten 30 Jahre". Durch die Einheitsliste wurde gewährleistet, dass die SED immer die stärkste Fraktion wurde. Nach einem bestimmten Schlüssel wurden die Abgeordnetensitze auf die Einheitspartei sowie die Blockparteien, die FDJ und den Kulturbund verteilt, wobei diese beiden Massenorganisationen zumeist durch SED-Mitglieder repräsentiert wurden, was deren Dominant noch verstärkte. Zwar schrieb die DDR-Verfassung freie und geheime Wahlen vor, in der Praxis aber fanden diese "offen" statt und es gab zahlreiche Wahlfälschungen. Wer sein verfassungsmäßiges Recht in Anspruch nahm und sich in eine Wahlkabine zurückzog und dort sein Kreuzchen eintrug, machte sich verdächtig. Eine Kuriosität waren die fliegenden Wahlurnen. Sie wurden von Wahlhelfern zu Personen gebracht, die selber nicht zur Abstimmung kommen konnten, dies aber im Interesse einer hohen Wahlbeteiligung daheim tun sollten.

Höchste Alarmbereitschaft

Ein Markstein auf dem Weg der DDR in den Abgrund war die Kommunalwahl am 7. Mai 1989. In einer Situation, da die Wirtschaft des zweiten deutschen Staates kollabierte, sich in den Genehmigungsstellen die Ausreiseanträge türmten und sich die Opposition ungeachtet massiver Behinderungen durch die Sicherheitsorgane zu Wort meldete, sollte die durch eine so genannte Volksaussprache vorbereitete Stimmenabgabe nach dem Willen der SED-Führung so etwas wie ein "überwältigendes Votum" für den Kurs der Partei und ihres Generalsekretärs Erich Honecker werden. Wie gewohnt, kam das Ergebnis durch Fälschung und Manipulation zustande. So konnte Egon Krenz als oberster Wahl-Organisator am Abend des 7. Mai 1989 grinsend verkünden konnte, dass 98,5 Prozent der Wähler mit "Ja" gestimmt haben. "Das Wahlergebnis dokumentiert die millionenfache Zustimmung zu der im Wahlaufruf der Nationalen Front festgeschriebenen Politik unseres Staates. Es widerspiegelt: Das Volk der DDR ist entschlossen, den Weg der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft erfolgreich weiter zu beschreiten, das sozialistische Vaterland zu stärken", heißt es in einem Beitrag im Parteiorgan "Neues Deutschland". Die Wahlentscheidung sei ein in aller Welt unübersehbares Bekenntnis der DDR-Bürger zur konstruktiven Friedenspolitik unseres Staates, ein Bekenntnis auch zu neuen Taten unter der Devise "Mein Arbeitsplatz - mein Kampfplatz für den Frieden!" Trotz anderslautender Behauptungen in den DDR-Medien war der Wahlbetrug nicht zu leugnen, und so wurde bei den Massendemonstrationen im Herbst 1989 auch "Volkswahlen ohne falsche Zahlen" laut und stark gerufen.

Da mit Komplikationen gerechnet wurde und Bürgerrechtler die genaue Beobachtung des Wahlaktes angekündigt hatten, wurden die Stasi und die Volkspolizei im Vorfeld der Kommunalwahlen in höchste Alarmbereitschaft versetzt. In einem Brief an Honecker drückte der ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen Egon Krenz, der zugleich oberster Wahlleiter war und im Oktober 1989 Honecker beerbte, seine Erwartung aus, "dass gegnerische Kräfte, insbesondere wiederum jene, die ,unter dem Dach der Kirche' agieren, verstärkt in den Wahlbüros jede Handlung der Wahlvorstände beobachten, um an eventuellen unkorrekten Handlungen die Nichteinhaltung der wahlrechtlichen Bestimmungen ,nachzuweisen'". Als die DDR verschwunden war, behauptete Krenz, die Kontrolle durch 300 000 Wahlhelfer sei für ihn der Beweis gewesen, "dass diese Wahlergebnisse dem entsprachen, was aus den Kreisen und Bezirken gemeldet wurde".

Wie jede Stimmabgabe in der DDR, so war auch diese Kommunalwahl im Mai 1989 keinesfalls frei und demokratisch. Wer nicht erschien beziehungsweise wer in eine Kabine ging, um vermutlich dort mit "Nein" zu stimmen oder den Wahlzettel ungültig zu machen, wurde namentlich festgestellt und musste mit Sanktionen rechnen. Dass dies trotz alledem nicht wenige Leute riskierten, resultierte aus dem Mut der Verzweiflung und bewies angestauten Frust. Sicher auch wollten manche Wahlverweigerer die Behörden provozieren und Forderungen etwa für eine bessere Wohnung durchsetzen, was manchmal sogar geklappt hat. Beeinflusst haben die Neinstimmen den schamlos frisierten Ausgang der Wahl nicht. Eine konkrete Einflussnahme der SED-Spitze auf die "Gestaltung" der Ergebnisse konnte später nicht nachgewiesen werden, diese erfolgte auf indirekte Weise. Unbestritten ist, dass sich die Behörden bereits auf unterer Ebene ähnlich wie beim Hochschwindeln von ökonomischen Daten und Wettbewerbsergebnissen gegenseitig zu übertreffen suchten. Denn welcher Bürgermeister oder SED-Kreisvorsitzender wollte durch Abweichungen von den vorgegebenen 99 Prozent in seinem Bereich unangenehm aufzufallen und sich vor übergeordneten Leitungen rechtfertigen? Also ließ man die eine der andere Neinstimme unter den Tisch fallen und manipulierte die Listen. Zufrieden konnte sich die SED- und Staatsführung zurücklehnen und sich einflüstern, dass alles seinen "sozialistischen Gang" gegangen sei.

Wer zu spät kommt...

Die frisierten Wahlergebnisse, angestrengte Freudenbekundungen, Jubiläumsaufrufe und dito Feste, aber auch die Einschüchterung renitenter DDR-Bewohner und blanker Stasi-Terror nutzten nichts, das Ende der DDR war gekommen. Ein letztes Aufbäumen gab es am 7. Oktober 1989, als der 40. Jahrestag mit großem Gepränge gefeiert wurde. Mit unbewegter Mine schaute der vom Krankenlager wieder auferstandene Staats- und Parteichef Erich Honecker von der Ehrentribüne in der Berliner Karl-Marx-Allee auf die vor ihm im Stechschritt paradierenden Soldaten und das Defilee der seiner Fahnen und Blumen schwenkenden Untertanen. Als sich am Abend die DDR-Elite mit den ausländischen Ehrengästen im Palast der Republik zum Festempfang versammelte, ertönten draußen Pfiffe und "Gorbi Gorbi"-Rufe. Michail Gorbatschows berühmter, auf die längst fälligen Reformen in der DDR abzielender Spruch "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" machte die Runde. Die Stasi ließ die aufgebrachten Menschen nicht an das "Haus des Volkes" heran. Zahlreiche Regimekritiker wurden verhaftet und zu brutalen Verhören "zugeführt". Stasiminister Mielke kommandierte seine Truppen höchstpersönlich: "Haut sie doch endlich zusammen, die Schweine".

Zwei Tage später versammelten sich in Leipzig nach dem traditionellen Friedensgebet für eine demokratische Erneuerung 70 000 Menschen zu einer Massendemonstration, wie sie in der DDR noch nie gesehen wurde. Diesmal verzichtete das Militär auf gewaltsame Gegenmaßnahmen, die leicht in einer blutigen Schlacht nach Art des Massakers auf dem "Platz des Himmlischen Friedens" in Peking hätten enden können (dazu folgt ein weiterer Beitrag auf dieser Internetseite). Überall in der DDR fassten die Menschen Mut und gingen auf die Straße, von Honecker und Genossen als antisozialistische Provokateure und Rowdys diffamiert. Doch der Ruf nach wirklichen Reformen, nach freien Wahlen ließ sich nicht mehr unterdrücken. Das Neue Forum und andere Oppositionsgruppen brachten detaillierte Positionspapiere unter die Massen.

Palastrevolution im Politbüro

Zu diesem Zeitpunkt gaben einige um ihren eigenen Kopf besorgte Mitglieder des SED-Politbüros die Parole "Rette sich wer kann" aus. Als Schabowski, Krenz, Stoph und andere am 18. Oktober im Zentralkomitee in einer Palastrevolution Honecker zum Rücktritt zwangen, war dieser wie vom Donner gerührt. "Ich muss ganz offen sagen, dass ich von der ganzen Soße nichts gewusst habe. Das ergab sich einfach daraus, dass ich ein viertel Jahr durch Krankheit und Operation aus der praktischen Arbeit ausgeschaltet war", behauptete der Entmachtete später. Mit Honecker verloren der Wirtschaftssekretär Günter Mittag und der Agitationschef Joachim Herrmann ihre Parteiämter, zwei besonders verhasste Hardliner, denen man die Misere in der Ökonomie und bei den Medien anlastete. Egon Krenz kündigte im Zentralkomitee und am Abend noch einmal im DDR-Fernsehen, die Zuschauer mit "Genossen" ansprechend, die "Wende" und "Erneuerung auf festem, sozialistischem Fundament" an, versprach Reformen, die aber nicht über kosmetische Korrekturen hinaus gegen sollten (zum Thema Wende siehe weiteren Beitrag auf dieser Internetseite). In Leipzig, Dresden, Magdeburg, Zwickau, Schwerin, Neubrandenburg, Plauen und Potsdam ertönte der Ruf nach echten Verbesserungen der prekären Lebenslage, nach Reisefreiheit und freien Wahlen. Die Wiedervereinigung war erst ein paar Wochen später Thema. Vorsichtig berichtete das DDR-Fernsehen über die Massendemonstrationen, bei denen Transparente "Visafrei bis Hawaii" und "Freie Wahlen" hochgehalten wurden.

Die Opposition reagierte auf die Verheißungen von Krenz mit Misstrauens und weiteren Demonstrationen. Honeckers "Kronprinz" wurde besonders angekreidet, dass er führend an der Fälschung der Ergebnisse der Kommunalwahl im Mai 1989 beteiligt war und die Niederschlagung der chinesischen Studentenrevolte auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking gerechtfertigt hatte. Hektisch reagierte die neue Führung mit Beschwichtigung. Den in den westdeutschen Botschaften in Warschau und Prag befindlichen DDR-Bürgern wurde die "Ausreise" in den Westen gestattet. "Wir sind gewillt, gemeinsam mit allen die Ursachen zu ergründen und zu beseitigen, die dazu geführt haben, dass uns so viele den Rücken gekehrt haben", versprach die neue SED-Führung, doch niemand wollte ihr noch Glauben schenken. Und als Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989 eher beiläufig bei einer Pressekonferenz vor laufenden Kameras erklärte: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen - Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse - beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Versagungsgründe werden nur in besonderen Ausnahmefällen angewandt", wurde das von besonders gewitzten und mutigen Berlinern als Signal angesehen, an den Grenzübergangsstellen "unverzüglich", wie Schabowski auf Nachfrage bemerkt hatte, den Durchlass in den Westen zu verlangen, was noch in derselben Nacht zur Öffnung der deutsch-deutschen Grenze mit den bekannten Folgen führte.

(5. Mai 2016)

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