"Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen..."

Was der neue SED- und Staatschef der DDR Egon Krenz im Herbst 1989 unter Wende verstand und warum dieser diskreditierte Begriff bis heute in Gebrauch ist



Sich von ihren Untertanen feiern lassen und nichts infrage stellen, so hatten
es Honecker & Co. am liebsten. Nach sowjetischem Vorbild wurden bei
Massenaufmärschen stets auch solche "Pappköppe" herumgetragen.




Am 4. November 1989 trauten sich die DDR-Bewohner, bei der Demonstration für mehr
Bürgerrechte auf dem Berliner Alexanderplatz regimekritische Plakate hochzuhalten.




Für Egon Krenz und die anderen Politbürokraten gab es im so genannten
Wendeherbst 1989 nur noch Hohn und Spott. (Repros: Caspar)


Unmittelbar nach der Entmachtung von Erich Honecker als SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzender gab Egon Krenz am Abend des 18. Oktober 1989 in Anlehnung an Lenin berühmtes Wort "Lernen, lernen und nachmals lernen" die Parole "Arbeit, Arbeit, Arbeit" aus. Der langjährige FDJ-Chef und Sicherheitssekretär im SED-Politbüro hatte die Nachfolge seines Ziehvaters als SED-Generalsekretär angetreten und war schon bald Staatsratsvorsitzender sowie Chef des Nationalen Verteidigungsrates. Er kündigte die "Wende" und "Erneuerung auf festem, sozialistischem Fundament" an, versprach Reformen, unter denen er allerdings nur kosmetische Korrekturen verstand. Einige wenige Funktionäre wurden aus ihren Ämtern entfernt, aber sonst sollte alles seinen "sozialisti-schen Gang" gehen. Derweil gingen in Leipzig und anderen Städten die Menschen auf die Straße und riefen "Wir sind das Volk". Vorsichtig berichtete das DDR-Fernsehen über die Massendemonstrationen, bei denen Transparente "Visafrei bis Hawaii" und "Freie Wahlen" hochgehalten wurden.

Der Plan von Honeckers "Kronprinz" Krenz, das angeblich "erneuerte" Staatsschiff DDR wieder in ein ruhiges Fahrwasser lenken zu können, ging nicht auf. Die Führungsclique dachte nicht im Mindesten daran, ihren Anspruch auf Alleinherrschaft und Alleinwissen aufzugeben, sich einer freien, demokratischen Wahl zu stellen und den Sozialismus an Haupt und Gliedern zu erneuern. Der neue, ewig grinsende Partei- und Staatschef beschrieb das, was dem Sturz von Honecker folgte und was er zu praktizieren gedachte, mit "Wende". Der Begriff hat sich deutschlandweit für die Vorgänge im Herbst 1989 eingebürgert. Er ist gängig und irgendwie einprägsam, aber er ist ungenau, und es gibt Leute wie den Verfasser dieser Zeilen, die ihn, wenn überhaupt, nur mit Anführungsstichen und Widerwillen benutzen.

Nach allem, was nach Honeckers Sturz in der kurzen Ära Krenz und danach über Machtmissbrauch, Stasispitzelei und Korruption bekannt wurde, war die Vertrauensgrundlage zwischen Volk und Führung endgültig zunichte. Die sich scheinbar so locker und irgend-wie verjüngt gebende Partei- und Staatsführung agierte kopflos, beging einen Fehler nach dem anderen. Eine ehrliche Aufarbeitung der Probleme, die zum Desaster der DDR im 40. Jahr ihres Bestehens geführt hatten, fand nicht statt, denn man hätte sich selber anklagen müssen. Doch fehlten dazu den Verantwortlichen Mut und Einsicht. Wie nach der so genannten Wende veröffentlichte Geheimdokumente aus dem obersten Machtzirkel beweisen, war seit langem klar, dass die DDR wirtschaftlich, politisch und mental am Ende war. Der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission beim Ministerrat der DDR und Mitglied des Politbüros der SED Gerhard Schürer und weitere prominente Wirtschaftsfunktionäre warnten am 27. Oktober 1989 in einem Bericht an die SED-Führung vor der hohen Staatsverschuldung gegenüber den westlichen Ländern und der unmittelbar bevorstehende Zahlungsunfähigkeit der DDR. Sie forderten eine grundsätzliche Änderung der Wirtschaftspolitik der DDR verbunden mit einer durchgreifenden Wirtschaftsreform. Schlude-rei und selbstverschuldete Verluste müssten durch Abzüge vom Lohn und Einkommen bestraft werden, und Investitionen müssten für Erhaltung, Modernisierung und Rationalisierung eingesetzt werden. "Der Wahrheitsgehalt der Statistik und Information ist auf allen Gebieten zu gewährleisten", heißt es in dem Papier, was nicht anderes bedeutet, dass auch auf diesem Gebiet gelogen und betrogen wurde. Erich Honecker berauschte sich, das war allgemein bekannt, an geschönten Zahlen und glaubte allen ernstes und ließ dies auch im "Neuen Deutschland" vermelden, dass die DDR zu den zehn bedeutendsten Industriestaaten der Welt gehört, ohne zu sagen, wer die anderen neun sind.

Egon Krenz räumte intern mit Blick auf seinen Vorgänger Erich Honecker "Anzeichen politischer Arroganz" ein und beklagten, die "gut gemeinten Ratschläge unserer besten Freunde", also Gorbatschows Warnungen, in den Wind geschlagen zu haben. Eigenes Ver-sagen und Schönfärberei, die Unterdrückung der Meinungsfreiheit, die Wahlfälschungen und der Terror der Staatssicherheit gegenüber der eigenen Bevölkerung waren kein Thema. Trotz aller Beschwichtigungsversuche und Versprechungen, es werde alles besser, hagelte es Austritte aus der SED, den Blockparteien und der Einheitsgewerkschaft FDGB. Bei zahlreichen Demonstrationen, die Stasi und Polizei nicht mehr unter Kontrolle hatten, erklang überall im Land machtvoll der Ruf "Wir sind das Volk", "Keine Gewalt" und schon bald "Wir sind ein Volk". Die Medien, die zum erstenmal nicht mehr von der SED kontrolliert wurden und zur "ideologischen Tränke" mussten, erlaubten der Bevölkerung Einblicke in das komfortable Leben der so genannten Nomenklatura, also der für "höhere" Funktionen ausersehene Elite, und die von ihr wie selbstverständlich in Anspruch genommene Versorgung mit Waren aus dem ja eigentlich so verachteten kapitalistischen Ausland, genannt "Westversorgung".

Doch konnten solche Enthüllungen, die die langweilige "Aktuelle Kamera" des DDR-Fernsehens und die Presse des zweiten deutschen States plötzlich interessant machten, den angestauten Dampf im überhitzten Kessel kaum ablassen. Wichtigste Forderungen jener Tage waren die nach freien Wahlen und nach Reisefreiheit. Der Anfang November 1989 dem DDR-Volk wie ein Knochen vorgeworfene Entwurf für ein Reisegesetz trug nicht zur Beruhigung bei. Im Gegenteil, selbst gutwillige Genossen empfanden die vorgelegten Paragraphen als Zumutung. Zwar wurde jetzt allen DDR-Bewohnern die Möglichkeit zur Reise in den Westen eingeräumt, doch sollten sie sich dafür eine Genehmigung bei der Polizei holen. Lange Warteschlangen, Antragsformulare und Befragungen wären die Folge gewesen. Während das Reisegesetz noch in der Presse breit erörtert wurde, wurde der Ruf "Die Mauer muss weg" immer lauter. Und dann war sie am 9. November 1989 tatsächlich auf und weg!

Der durch den Verlauf der Geschichte diskreditierte Begriff "Wende" wurde von Egon Krenz am 18. Oktober 1989 als neue politische Linie ausgegeben. Gegenüber dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl erklärte der SED-Chef und Staatsratsvorsitzende, er habe bei seinem Amtsantritt bewusst nicht von einem "Umbruch" in der DDR, sondern von "Wende" gesprochen. In seinem Buch "Herbst '89" beschreibt Krenz, wie es zur Ablösung von Honecker kam und was folgte. Bei der Abfassung seiner Antrittsrede sei im SED-Politbüro um einer griffigen Formulierung für das, was gerade passiert und was nun folgt, heftig gerungen worden. Man hätte auch "Perestroika" oder "Glasnost" nehmen können, das habe jeder verstanden, doch wollte er, Krenz, diese Wörter nicht abschreiben. "Ich muss einen deutschen Begriff finden, der sowohl die Hinwendung auf das Bewährte aus 40 Jahren DDR zulässt als auch deutlich macht, dass wir uns abwenden von allem, was unser Land in die gegenwärtige Situation gebracht hat". Daher kündigte der neu gewählte Generalsekretär vor dem neu gewählten Zentralkomitee an: "Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten". Doch wäre eine Wende oder Umkehr angestrebt worden, die diesen Namen verdient, dann hätte die Staatspartei ihren Allmachtsanspruch aufgeben, beim Volk für Verbrechen und Versagen um Entschuldigung bitten und alles tun müssen, um die Verantwortlichen, das heißt sich selbst, zur Rechenschaft zu ziehen. Das allerdings unterblieb, weil man sich nicht selbst auf die Anklagebank setzen wollte und man hoffte, man werde das Volk mit Hilfe der bewaffneten Organe und der Sowjets in Schach halten und im Übrigen weiterwursteln wie bisher. Im Übrigen war das Wort Wende schon besetzt, nämlich durch Helmut Kohl, der schon 1980 im Bundestagswahlkampf von der geistig-moralischen Wende sprach.

Am 4. November 1989 kamen fast eine Million Ostberliner auf dem Alexanderplatz zur größten freien Demonstration zusammen, die die DDR in ihrer vierzigjährigen Geschichte gesehen hat. Plakate mit Aufschriften wie "Glasnost und nicht Süßmost", "Volksauge sei wachsam", "Pässe für alle - der SED den Laufpass", "Stasi an die Stanze", "Öko-Daten ohne Filter", "Kein Artenschutz für Wendehälse" oder "Rücktritt ist Fortschritt" und "Sägt die Bonzen ab - nicht die Bäume" wurden hoch gehalten, dazu Honecker in Häftlingskluft und eine Karikatur von Egon Krenz als zähnefletschender, Kreide fressender Wolf im Märchen vom Rotkäppchen. Mit Wendehälsen waren jene Leute gemeint, die schnell die Kurve zu kriegen versuchten und behaupteten, schon immer für einen besseren Sozialismus, für Demokratie und Pluralität gewesen zu sein, doch nicht genug Macht und Einfluss besessen zu haben, diese Forderungen auch durchzusetzen. Unter die Kategorie der damals vielzitierten Blockflöten fielen Mitglieder der in der Volkskammer als Staffage und zur Akklamation benötigten so genannten Blockparteien, Angehörige des Kulturbundes sowie der Einheitsgewerkschaft FDGB und Vertreter der FDJ, die in einem Wahlblock zusammengeschlossen und von der SED angeleitet und gegängelt wurden. Manche dieser Blockflöten machten später bei den etablierten Parteien im vereinigten Deutschland Karriere, während man von vielen Mitgliedern der Bürgerbewegung nichts mehr hört.

Vom Auftritt des Schriftstellers und "Nestor der DDR-Bürgerbewegung" Stefan Heym am 4. November 1989 spricht man noch heute. Auf dem Alexanderplatz sprach er diese berühmten Worte, bei denen es vielen Zuhörern kalt und warm den Rücken herunter ging: "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung! Vor noch nicht vier Wochen, die schön gezimmerte Tribüne hier um die Ecke, mit dem Vorbeimarsch, dem bestellten, vor Erhabenen! Und heute! Heute hier, die Ihr Euch aus eigenem freiem Willen versammelt habt, für Freiheit und Demokratie und für einen Sozialismus, der des Namens wert ist. In der Zeit, die hoffentlich jetzt zu Ende ist, wie oft kamen da die Menschen zu mir mit ihren Klagen. Dem war Unrecht geschehen, und der war unterdrückt und geschurigelt worden. Und allesamt waren sie frustriert. Und ich sagte: So tut doch etwas! Und sie sagten resigniert: Wir können doch nichts tun. Und das ging so in dieser Republik, bis es nicht mehr ging. Bis sich so viel Unwilligkeit angehäuft hatte im Staate und so viel Unmut im Leben der Menschen, dass ein Teil von ihnen weglief. Die anderen aber, die Mehrzahl, erklärten, und zwar auf der Straße, öffentlich: Schluss, ändern. Wir sind das Volk! [...] Lasst uns auch lernen zu regieren. Die Macht gehört nicht in die Hände eines einzelnen oder ein paar weniger oder eines Apparates oder einer Partei. Alle müssen teilhaben an dieser Macht. Und wer immer sie ausübt und wo immer, muß unterworfen sein der Kontrolle der Bürger, denn Macht korrumpiert. Und absolute Macht, das können wir heute noch sehen, korrumpiert absolut. Der Sozialismus - nicht der Stalinsche, der richtige -, den wir endlich erbauen wollen zu unserem Nutzen und zum Nutzen ganz Deutschlands, dieser Sozialismus ist nicht denkbar ohne Demokratie. Demokratie aber, ein griechisches Wort, heißt Herrschaft des Volkes!", sagte Heym und bekam Riesenbefall ebenso wie die Schauspielerin Steffi Spira, als sie rief "1933 ging ich allein in ein fremdes Land. Ich nahm nichts mit, aber im Kopf hatte ich einige Zeilen eines Gedichts von Bertolt Brecht: Lob der Dialektik. So wie es ist, bleibt es nicht. Wer lebt, sage nie Niemals. Wer seine Lage erkannt hat, wie soll der aufzuhalten sein. Und aus Niemals wird Heute noch! Ich wünsche für meine Urenkel, dass sie aufwachsen ohne Fahnenappell, ohne Staatsbürgerkunde und dass keine Blauhemden mit Fackeln an den hohen Leuten vorübergehen. Ich habe noch einen Vorschlag: Aus Wandlitz machen wir ein Altersheim! Die über 60- und 65jährigen können jetzt schon dort wohnen bleiben, wenn sie das tun, was ich jetzt tue - Abtreten!"

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