Angetreten zur "politischen Tränke"

Offiziell kannte die DDR keine Zensur, doch jeder las und sah tagtäglich, wie diese funktionierte



Das von Walter Womacka für das Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz
geschaffene Wandbild, genannt "Bauchbinde", war mit der Verherrlichung
des Sozialismus in der DDR so ganz nach dem Geschmack von Ulbricht und Genossen.




Was im Neuen Deutschland stand und was nicht, unterlag strenger Kontrolle
durch die Propagandaabteilung des SED-Zentralkomitees. Honecker persönlich
pflegte dort Meldungen und Kommentare zu redigieren und Fotos von sich zu platzieren.




Wer eine Tageszeitung las, kannte auch den Inhalt der anderen, doch gab es da
und dort auch kleine Abweichungen von der Norm, aber keine prinzipiellen.




Karl-Eduard von Schnitzler profilierte sich mit seiner TV-Sendung
"Der schwarze Kanal" zu einer Art Hassprediger und erwies sich
auch nach dem Untergang seines Staates als unbelehrbar.




Im Untergrund kursierten Alexander Solschenizyns Roman "Im ersten Kreis der Hölle"
über sowjetische Arbeitslager aus dem Jahr 1968 und weitere verbotene
Bücher als Abschriften, denen man massive Gebrauchsspuren ansieht.
(Fotos/Repro: Caspar)

Angeblich war in der DDR die Zensur unbekannt, der Arbeiter-und-Bauern-Staat gab sich weltoffen und modern. Doch war die Gängelung und Überwachung der Medien sowie der Schriftsteller und weiterer Personen nahezu perfekt. Die SED, die Regierung und die Staatssicherheit taten alles, dass unbotmäßige Gedanken sowie missliebige Bilder und Filme verbreitet und geschaffen werden. Was dem zweiten deutschen Staat nicht in den Kram passte, fiel unter den Tisch, wurde nicht publiziert, gefilmt oder fotografiert, kam auch nicht in Ausstellungen vor und wurde auch nicht in den Medien erwähnt. Auf der anderen Seite sorgten linientreue Hofberichterstatter dafür, dass ihre Jubelberichte schnell und wortwörtlich veröffentlicht wurden. Erich Honecker kümmerte sich persönlich um offizielle und offiziöse Meldungen, verschärfte gelegentlich auf seine plumpe Weise den Wortlaut von Kommentaren. Zwar wurde dafür gesorgt, dass geistige Konterbande die DDR-Bewohner nicht erreicht, aber da war ja noch der Westen, wo man sich nicht den Mund verbieten ließ und von dem manche nicht erwünschte Informationen an das Ohr und manche als unpassend eingestufte Bilder vor die Augen der DDR-Bewohner gelangten.

Penetrante Hofberichterstattung

Besonders penetrant wurde es immer, wenn im Zentralorgan Neues Deutschland (ND) und der Aktuellen Kamera, der wichtigsten Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens, im Stil feudaler Hofberichterstattung die "führenden Genossen" mit Walter Ulbricht und nach dessen Sturz 1971 Erich Honecker an der Spitze zu Wort kamen. Waren ihre langen Titel schon eine Zumutung, so war das, was sie ihrem Volk mitzuteilen hatten, banal und wirkte wie vom Blatt abgelesen. Keine Bewegung, keine Geste, die nicht auf ihre vermeintlich positive Wirkung auf die Leser und Zuschauer abgewogen worden wäre. Als einer der besten Kenner und Akteur des Zensurbetriebs hat Günter Schabowski, ehemaliger Chefredakteur des "Neuen Deutschland" und 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, in seinem Buch "Der Absturz" von 1991 die ständigen Eingriffe der SED-Führung in die DDR-Presse und das Funktionieren der sich wie eine Schlammschicht auf das ganze Land liegende Zensur so beschrieben: "Allwöchentlich donnerstags nach der Sitzung des Politbüros (dienstags) und nach der Beratung des ZK-Sekretariats (mittwochs) versammelten sich die Chefredakteure der in Berlin ansässigen Zeitungen der SED und der Massenorganisationen, aber auch der Leiter des Presseamtes der Regierung und der Abteilung Agitation zur politischen Tränke. Dort wurden die politischen Sprachregelungen ausgegeben für die Propagierung der Parteibeschlüsse, für die aktuelle innen- und außenpolitische Berichterstattung und Kommentierung."

Das Ergebnis dieser Reglementierung, an der Schabowski als ND Chefredakteur und Parteifunktionär mitmachte, bis es nicht mehr ging, war öde Langeweile und Desinformation, und wenn man eine DDR-Zeitung gelesen hatte, dann wusste man im Prinzip auch, was in anderen steht. Neben der offiziell immer in Abrede gestellten Unterdrückung und Manipulation von Informationen gab es die nicht weniger gefährliche und effektive Zensur in den Köpfen. Sie sicherte, dass bestimmte Beiträge in voraus eilendem Gehorsam nicht geschrieben und auch Bilder nicht aufgenommen wurden. Diese Form von Selbstzensur hatte den Vorteil, dass etwas, das nicht auf den Redaktionstisch kam, auch nicht zensiert oder umgeschrieben werden musste.

Kaninchenfilme verschwanden im Keller

In vertraulichen und geheimen Dokumenten wurde beschrieben, wie diese Zensur funktionieren soll. Im üblich schlimmem Parteichinesisch umschrieb das Ministerium für Kultur 1960 die von Lektoren und Gutachtern ausgeübte Zensur als "Hilfe" für die Autoren, die noch nicht die erforderliche politisch-ideologische Reife besitzen, die die SED von ihnen erwartet. "Die Begutachtung eingereichter Manuskripte und Bücher ist eine der wichtigsten operativ-konkreten Form gegenüber den Verlagen im Bereich des sozialistischen Literatur- und Buchwesens." Bis ins Einzelne war geregelt, welche Arbeitsgänge ein Manuskript, ganz gleich ob Belletristik oder Fachbuch, durchlaufen muss, bis es gedruckt und an die Leser ausgeliefert wird - oder auch nicht. Das bürokratisch organisierte Verfahren konnte lange dauern. Von den Autoren wurden, wie der Schriftsteller Stefan Heym und viele seiner Kollegen leidvoll erfahren mussten, politisch motivierte Eingriffe in ihr Werk, Kürzungen und Änderungen verlangt. Zwar wirkte sich die Lektorenarbeit manchmal wohltuend auf das literarische Endprodukt aus, aber oft wurde der Inhalt so verbogen, dass die Autoren sich mit ihrer Arbeit nicht mehr identifizieren mochten.

Beim 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 wurde nicht nur Künstlern, sondern auch deren Kontrolleuren "Versagen" vorgeworfen. Berichterstatter Erich Honecker bezeichnete nicht konforme Autoren als Nihilisten, Skeptizisten und sogar Pornografen. Im Ergebnis der Plenartagung wurden zahlreiche Filme, Theaterstücke, Bücher und Musikgruppen verboten. Unter den als sozialismusfeindlich erkannten so genannten Kaninchenfilme, benannt nach "Das Kaninchen bin ich" von Kurt Maetzig, befanden sich "Denk bloß nicht, ich heule" von Frank Vogel, "Der Bau" von Heiner Müller und "Die Spur der Steine" von Frank Beyer. Diese und weitere "Kaninchenfilme" verschwanden im Keller, weshalb man sie auch Kellerfilme nannte. Nach dem Ende der SED-Herrschaft konnten die in der SED-Presse geschmähten Filme mit viel Beifall gezeigt werden. Auf den Index gelangten auch der Roman "Fünf Tage im Juni", in dem Stefan Heym den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 thematisiert, und weitere Arbeiten dieser Art.

Die Unterdrückung von Geist und Information endlich aufzugeben, war eine der wichtigsten Forderungen von Schriftstellern, Publizisten und Journalisten am Vorabend der friedlichen Revolution in der DDR. Wer sich mit Forderungen zur Abschaffung der Zensur aus dem Fenster lehnte, verlor seine Arbeit, wurde eine Persona non grata und/oder geriet ins Visier der Staatssicherheit. Vielen Autoren wurde das Leben in der DDR so schwer gemacht, dass sie in den Westen gingen, andere blieben und mussten große Standhaftigkeit aufwenden und viele Entbehrungen auf sich nehmen. Wer im Westen ohne Genehmigung der staatlichen Stellen publizierte, bekam es mit der Justiz zu tun. Ein hoher Bekanntheitsgrad schützte den einen oder anderen Künstler vor dem Gefängnis, andere weniger prominente Dissidenten aber machten mit ihnen leidvolle Bekanntschaft.

Nutzlos, menschenfeindlich, paradox

Auf dem X. Schriftstellerkongress im November 1987 sprach der Schriftsteller Christoph Hein aus, was viele dachten und am eigenen Leib erlebten. "Das Genehmigungsverfahren, die staatliche Aufsicht, kürzer und nicht weniger klar gesagt: die Zensur der Verlage und Bücher, der Verleger und Autoren ist überlebt, nutzlos, paradox, menschenfeindlich, volksfeindlich, ungesetzlich und strafbar. Ich werde das im folgenden begründen: Die Zensur ist überlebt. Sie hatte ihre Berechtigung in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als der deutsche Faschismus von den Alliierten militärisch vernichtet, aber die geistige Schlacht um Deutschland, um die Deutschen damit noch nicht entschieden war. Damals hatte die Zensur, ähnlich den Lebensmittelmarken, die Aufgabe, den allgemeinen Mangel zu ordnen, das Chaos zu verhindern und die Aufbauarbeit zu ermöglichen. Zudem begünstigte die damalige historische Situation die Existenz einer Zensur, also das, was unsere neuere Geschichtsschreibung mit den seltsam verwaschenen Formulierungen ,jene tragischen Ereignisse der dreißiger Jahre in der Sowjetunion' und ,zeitweilig aufgetretene Verletzungen der Leninschen Normen des Parteilebens' eher zu verdecken versucht, als zu benennen. Die Zensur hätte zusammen mit den Lebensmittelmarken Mitte der fünfziger Jahre verschwinden müssen, spätestens im Februar 1956." Hein erklärte die Zensur als nutzlos, denn sie kann Literatur nicht verhindern, allenfalls ihre Verbreitung verzögern. "Wir haben es wiederholt erlebt, dass nicht genehmigte Bücher Jahre später die Genehmigung erhalten mussten. Und daher wissen wir alle, dass Bücher, die uns heute noch nicht zugänglich sind, etwa einige der Bücher von Stefan Heym oder die von Monika Maron, in DDR-Verlagen erscheinen werden.

Hein zufolge ist die Zensur paradox, denn sie bewirke stets das Gegenteil ihrer erklärten Absicht. Das zensierte Objekt verschwinde nicht, sondern werde unübersehbar, werde selbst dann zum Politikum aufgeblasen, wenn Buch und Autor dafür untauglich sind und alles andere zu erwarten und zu erhoffen hatten. Die Zensur erscheine dann lediglich als ein umsatzsteigernder Einfall der Werbeabteilung des Verlages. "Die Zensur ist menschenfeindlich, feindlich dem Autor, dem Leser, dem Verleger und selbst dem Zensor. Unser Land hat in den letzten zehn Jahren viele Schriftsteller verloren, unersetzliche Leute, deren Werke uns fehlen, deren Zuspruch und Widerspruch uns bekömmlich und hilfreich war. Diese Schriftsteller verließen gewiss aus sehr verschiedenen Gründen die DDR. Einer der Gründe, weshalb diese Leute und ihr Land einander vermissen - das eine weiß ich, das andere vermute ich: denn wie die Engländer sagen: ,You can take the boy out of the country, but you can't take the country out of the boy' - einer der Gründe heißt Zensur.* Und der Autor, dem es nicht gelingt, aus seiner Arbeit die ihr folgende Zensur herauszuhalten, wird gegen seinen Willen und schon während des Schreibens ihr Opfer: Er wird Selbstzensur üben und den Text verraten oder gegen die Zensur anschreiben und auch dann Verrat an dem Text begehen, da er seine Wahrheit unwillentlich und möglicherweise unwissentlich polemisch verändert."

Seine bis dato vor einem solchen Gremium noch nie gehörte Anklage fasste Hein so zusammen: "Das Genehmigungsverfahren, die Zensur, muss schnellstens und ersatzlos verschwinden, um weiteren Schaden von unserer Kulturpolitik abzuwenden, um nicht unsere Öffentlichkeit und unsere Würde, unsere Gesellschaft und unseren Staat weiter zu schädigen." Nach dem Ende der SED-Herrschaft Ende 1989 kamen ungeheuerliche Tatsachen über die Gängelung der DDR-Medien, aber auch wie sich gewitzte Bewohner des zweiten deutschen Staates dagegen zur Wehr setzten, ans Tageslicht.

* "Du kannst den Jungen aus dem Land nehmen, aber man kann das Land aus dem Jungen nicht nehmen."

17. August 2016

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