Blumen, Kerzen und ein Riss im Straßenpflaster
Eindrücke von der Gedenkstätte für die Opfer des Mordanschlags vom 19. Dezember 2016 am Berliner Breitscheidplatz



Bei Besuchern ist die Freude auf dem Weihnachtsmarkt rund um die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche getrübt, wenn sie an das Schreckliche vor einem Jahr denken.



Gleich neben den Weihnachtsbuden nehmen sich Menschen Zeit, um der Opfer vom 19. Dezember 2016 zu gedenken.



Quer durch das Straßenpflaster und über die Stufen mit den Namen der zwölf Todesopfer verläuft ein aus hell glänzender Bronze gebildeter Riss.



Zum Schutz vor einem neuen Anschlag wurden rund um den Weihnachtsmarkt graue Betonpoller in der Hoffnung aufgestellt, dass sie im Falle eines Falles eine Gewalttat verhindern. (Fotos: Caspar)

An der Gedenkstätte für die Opfer des Mordanschlags am 19. Dezember 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz harren Menschen schweigend aus. Überall sind Blumen und brennende Kerzen zu sehen. In die Treppenstufen, die zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche führen, sind die Namen der zwölf Todesopfer eingelassen. Ein aus einem hell blinkenden Bronzestreifen gebildeter Riss quer durch das Straßenpflaster und über die Stufen deutet an, welche Wunden das Attentat des Tunesiers Anis Amri vor einem Jahr bei den Opfern und Hinterbliebenen, aber auch in der Berliner Öffentlichkeit und darüber hinaus geschlagen hat. Sie beklagen offensichtliche Untätigkeit der Sicherheitsbehörden vor jenem Schicksalstag, an dem Amri mit einem LKW mit voller Wucht in die Besucher des Weihnachtsmarks raste. Zuvor hatte er den polnischen Fahrer des Autos kaltblütig erschossen.

Nach und nach kamen nach dem 19. Dezember 2016 die hilflosen Versuche der Behörden ans Tageslicht, eigenes Versagen zu kaschieren und die Pannen bei der Überwachung des von ihnen zwar überwachten, aber nicht dingfest gemachten Islamisten schön zu reden. Es gab Fehler in der Kommunikation zwischen Nordrhein-Westfalen und Berlin, die erst zugegeben wurden, als sie nicht mehr von den Betroffenen leugnen ließen. Bisher ist nicht bekannt geworden, dass irgendeine für die Pannen und Vertuschungsversuche verantwortliche Person zur Rechenschaft gezogen worden wäre. Gegenüber den Medien weisen Sicherheitsbehörden von sich, durch Untätigsein den Massenmord ermöglicht zu haben, selbstverständlich nicht absichtlich.

Brief an die Bundeskanzlerin

Die Hinterbliebenen der Toten vom Breitscheidplatz und die bis heute verletzten und traumatisierten Überlebenden und ihre Angehörigen hatten Anfang Dezember 2017 in einem Offenen Brief die Bundesregierung und speziell Angela Merkel kritisiert und damit großes Aufsehen erzielt. "Frau Bundeskanzlerin, der Anschlag am Breitscheidplatz ist auch eine tragische Folge der politischen Untätigkeit Ihrer Bundesregierung. In einer Zeit, in der die Bedrohung durch islamistische Gefährder deutlich zugenommen hat, haben Sie es versäumt, rechtzeitig den Ressourcenausbau und die Reformierung der wirren behördlichen Strukturen für die Bekämpfung dieser Gefahren voranzutreiben. Wir fordern Sie dringend auf, die vorhandenen Defizite so schnell wie möglich zu beseitigen. Sie sind in der Verantwortung, die für die Bekämpfung des Terrors erforderlichen Ressourcen im Bund mit Priorität bereitzustellen. Aber auch die Länder müssen ihre Strukturen ausbauen und mit Ihnen gemeinsam an einer Entwirrung der behördlichen Strukturen arbeiten. Es darf künftig nicht mehr zu so gravierenden Problemen in der Koordination kommen. Gerade im Falle des Attentäters vom Breitscheidplatz sind diesbezüglich eklatante Missstände offenbar geworden, die so nicht weiter toleriert werden können", heißt es in dem Brief. Die Verfasser rügen unter anderem, dass der Staat die Betroffenen nicht ausreichend finanziell unterstützt habe und mit ihnen herzlos umgegangen sei.

"In Bezug auf den Umgang mit uns Hinterbliebenen müssen wir zur Kenntnis nehmen, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie uns auch fast ein Jahr nach dem Anschlag weder persönlich noch schriftlich kondoliert haben. Wir sind der Auffassung, dass Sie damit Ihrem Amt nicht gerecht werden. Der Anschlag galt nicht den unmittelbar betroffenen Opfern direkt, sondern der Bundesrepublik Deutschland. Es ist eine Frage des Respekts, des Anstands und eigentlich eine Selbstverständlichkeit, dass Sie als Regierungschefin im Namen der Bundesregierung unseren Familien gegenüber den Verlust eines Familienangehörigen durch einen terroristischen Akt anerkennen. Auch Ihre bisherigen Aktivitäten zur Unterstützung unserer Familien sind nicht ausreichend. So haben Sie schon am Tag unmittelbar nach dem Anschlag in der Gedächtniskirche einen Trauergottesdienst mit anderen Vertretern hoher politischer Ämter begangen. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir Betroffenen noch gar nichts von unserem Schicksal. Das dem Bundesministerium des Innern nachgeordnete BKA hatte eine Informationssperre zum Verbleib der Opfer verhängt und sich 72 Stunden Zeit für die Identifikation der Opfer gelassen. Während also der Trauergottesdienst stattfand, haben wir Hinterbliebenen verzweifelt nach unseren Angehörigen gesucht und dabei sämtliche Krankenhäuser in Berlin persönlich aufgesucht oder telefonisch kontaktiert. Überhaupt stand uns nach dem Anschlag anfangs nur die allgemeine Meldestelle für Vermisste der Berliner Polizei zur Verfügung. Hier wurden keinerlei Auskünfte erteilt und Rückrufe versprochen, die aber nicht erfolgten. Erst nach massiven Beschwerden über die fehlende Kommunikation und über 36 Stunden nach dem Anschlag wurden den Familien Beamte vom LKA Berlin als persönliche Ansprechpartner zugeordnet. Die LKA-Beamten konnten aber aufgrund der Informationssperre des BKA über weitere 36 Stunden keinerlei Auskünfte über unsere Angehörigen geben. Während einige Beamte sich nach Kräften um uns bemühten und zum Beispiel Notfallseelsorger vermittelten, ließen es andere an Empathie deutlich fehlen. Es kam sogar zu Zurechtweisungen." Indem die Bundeskanzlerin kurz vor dem Gedenktag die Verfasser dieses Briefes und weitere Betroffene im Bundeskanzleramt zu einem dreistündigen Gespräch empfing, versuchte sie, die Wogen zu glätten, und hat das wohl auch vermocht. Zumindest wurden weitere Erörterungen zwischen Regierung und den vom Anschlag auf vielfältige Weise zu Schaden gekommenen Personen angekündigt.

Herzloser Bürokratismus

Auf dem Breitscheidplatz erinnert nun ein in Bronze gegossener Riss im Boden an die zwölf Toten und die über 70 Verletzten. Auf den Stufen des ganz und gar unaufdringlichen Mahnmals stehen die Namen der Toten. In der Berliner Gedächtniskirche gab es am 19. Dezember eine Gedenkandacht mit den Angehörigen der Opfer und Ersthelfern sowie viel Landes- und Bundesprominenz. Um 20.02 Uhr läuteten die Glocken zwölf Minuten lang für die zwölf Toten. In der Kirche erklärte Bundespräsident Steinmeier, es werde "um Frauen und Männer, die in Berlin lebten, ihrer Arbeit nachgingen oder hier zu Besuch waren" getrauert. Er verneinte, dass die Maßnahmen zur Terrorabwehr ausreichend waren, und verlangte mehr Hilfe und Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen. Auch Bundeskanzlerin Merkel räumte Versäumnisse ein. Die Bundesregierung werde alles Menschenmögliche tun, damit die Betroffenen wieder leichter ins Leben zurückfinden, versprach sie. Man werde die Lehren aus den Erfahrungen im Umgang mit den Betroffenen ziehen. Bei Gesprächen mit Hinterbliebenen der Terroropfer seien Schwächen des Staats in einer solchen Situation zutage getreten. Michael Müller sagte im Abgeordnetenhaus: "Als Regierender Bürgermeister bitte ich Sie, die Angehörigen und Verletzten, für diese Fehler um Verzeihung."

Nach dem Anschlag wurden nicht nur erschreckende Defizite bei der Überwachung des Attentäters deutlich, der ungehindert an die Ausführung seiner Pläne gehen konnte, sondern auch solche im Umgang mit den Hinterbliebenen offenbar. Kein Offizieller habe sich um die gekümmert, beklagen sie, man habe sie herzlos und wie einen bürokratisch abzuwickelnden Vorgang behandelt und in ihrem Schmerz allein gelassen. Die Berliner Rechtsmedizin habe standardisierte Rechnungen für die "Untersuchung eines Toten (unbekannt) einschließlich Feststellung des Todes und Ausstellung eines Leichenschauscheins" verschickt. Hinterbliebene bekamen kommentarlos Zahnbürsten und andere Gegenstände zurück, die zur DNA-Probe abgegeben worden waren. Die kritisierten Institute entschuldigten sich mittlerweile für ihre gefühllose Art, als Details öffentlich geworden waren. Lange fehlte eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene, die finanziellen Mittel für Soforthilfen waren viel zu gering. Der Opferbeauftragte für die Bundesregierung, Kurt Beck, mahnte Änderungen an, der Fonds für die Opfer wurde auf bis zu 3,1 Millionen Euro aufgestockt. Wenn man Besucher der Gedenkstätte fragt, dann erhält man Antworten wie diese: "Wir hoffen auf Konsequenzen aus dem Anschlag, aber wir wissen nicht, ob es welche wirklich geben wird. Die Politiker sind verschwunden, die Probleme aber bleiben…"

21. Dezember 2017

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