Wo der Hauptmann von Köpenick und Honecker vor Gericht standen
Spaziergang durch die Turmstraße im Ortsteil Moabit gleicht einer Zeitreise durch die Berliner Geschichte



Der schon von weitem sichtbare Turm des Kriminalgerichts ist das wichtigste Wahrzeichen in der Moabiter Turmstraße.



Justitia über dem Portal des Gerichtsgebäudes urteilt nicht immer mit verbundenen Augen. Das ins Deutsche übersetzte Motto möchte sagen, dass im Kriminalgericht Justitia und Sapientia, also Gerechtigkeit und Weisheit, praktiziert werden, doch war und ist dieser Anspruch oft Illusion.



Wer im üppig ausgestatteten Gerichtssaal auf der Armen-Sünder-Bank saß, hatte in der Regel nichts zu lachen, doch manch ein Angeklagter kam mit dem Schrecken davon.



Steinerne Symbolfiguren für Recht und Gesetzlichkeit, aber auch für menschliche Schwächen halten in der Eingangshalle Wache.



Technische Utensilien aus der wechselvollen Vergangenheit des Kriminalgerichts sind in einem Extraraum unweit des Eingangs ausgestellt.



Die Tierskulptur gleich um die Ecke vor dem Amtsgericht in der Wilsnacker Straße ist ein Werk von Wilhelm Wolff aus dem Jahr 1895 und zeigt, wie eine Löwin ihre Jungen vor einer gefräßigen Schlange verteidigt. (Fotos: Caspar)

Die Turmstraße im Berliner Ortsteil Moabit ist ein geschichtsträchtiger Ort. Wer dort entlang geht, begibt sich auf eine Zeitreise durch zwei Jahrhunderte und lernt dabei auch den Charme der Nachkriegsarchitektur und manches Gebäude kennen, das schon mal bessere Zeiten sah. Begrenzt durch die Beusselstraße und die Rathenower Straße, wird die Turmstraße von der stark befahrenen Stromstraße und einigen kleineren Straßen gequert. Über längere Strecken besitzt die Turmstraße auf einer Seite keine Häuser, statt dessen viele Bäume, Liegewiesen und anderes Grün. Auffällig sind in diesem parkähnlichen Bereich, auch Kleiner Tiergarten genannt, die vielen kleinen Spielplätze uraße führt ins frühe 19. Jahrhundert, als Moabit noch ein ländlich geprägter Vorort am Rande der preußischen Haupt- und Residenzstadt Berlin war, in dem sich die ersten Industriebetriebe ansiedelten. Da damals am Ende der Straße jeweils ein Turm zu sehen war, und zwar in weiter Ferne die Spitze der Spandauer Nikolaikirche und entgegengesetzt die Sophienkirche im heutigen Bezirk Mitte, gab man der Straße den Namen Turmstraße.

Wichtigste Bauten entlang der Turmstraße sind das Rathaus und das Krankenhaus Moabit, eine im neogotischen Stil errichtete Kirche sowie das Kriminalgericht. Wie diese Bauwerke stehen auch einige Wohn- und Geschäftshäuser an der Turmstraße unter Denkmalschutz. Das wohl interessanteste, weil besonders kunstvoll gestaltete und zudem sehr geschichtsträchtige Gebäude in der Turmstraße ist das Kriminalgericht.

Beeindruckende Eingangshalle und moderne Technik

Errichtet von 1902 bis 1906 nach Plänen von Rudolf Mönnich und Carl Vohl für die enorme Summe von 7,7 Millionen Goldmark mit riesigem, schon von weitem sichtbarem Turm, war der Justizpalast Schauplatz berühmter Prozesse. Wie in der Kaiserzeit üblich, trumpfte auch dieses Gerichtsgebäude durch seine auf Angeklagte, Justizmitarbeiter sowie Prozessteilnehmer und ganz allgemein Besucher durch seine geradezu beängstigend wirkende Architektur auf. In dem Monumentalbau mit einer 210 Meter langen Front an der Turmstraße gab es 21 Gerichtssäle, darunter zwei Schwurgerichtssäle sowie 13 Strafkammer- und sechs Schöffensäle. Aus dem angrenzenden Untersuchungsgefängnis wurden die Angeklagten über separate Gänge und Treppen in die Verhandlungsräume. Jeder Kontakt mit Zeugen und Zuhörern sollte unterbunden werden. Besucher betreten das Kriminalgericht durch eine 29 Meter hohe und 27 Meter breite Mittelhalle, aus der man über geschwungene Treppen in die einzelnen Etagen gelangt. Überall ist dieses eindruckvolle Vestibül, das zur Erbauungszeit als vornehmster Raum des Gebäudes beschrieben wurde, mit Figuren und Reliefs geschmückt. Sie symbolisieren Ideale und Gegenstand der Rechtsprechung wie Gerechtigkeit, Religion, Friedfertigkeit, Wahrheit, Lüge und Streitsucht. Von Anfang an besaß das Gerichtsgebäude technische Einrichtungen von allerneuestem Stand, so Aufzüge für Personen und Akten, ein eigenes Kraftwerk für die elektrische Beleuchtung, eine eigene Wasserversorgung und natürlich eine hochmoderne Telefonanlage, mit der man nach draußen und intern im Haus alles und jeden erreichen konnte. In der damaligen Presse wurde hervorgehoben, dass man im Gerichtsgebäude gut und preiswert essen und trinken konnte. Nach den Kriegszerstörungen hat man das Haus weitgehend in seiner alten Gestalt zurück gewonnen, es aber auch durch Neubauten ergänzt. Dass es nebenan noch ein weiteres, nämlich das Alte Kriminalgericht gab, das im Zweiten Weltkrieg zerstört und danach abgetragen wurde, wissen wohl nur noch ganz wenige Anwohner.

Könige der Einbrecher

Einer der ersten, der 1906 im eben eröffneten Kriminalgericht zu einer vierjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, war Wilhelm Voigt, der Hauptmann von Köpenick. Der ehemalige Schuster hatte, in eine schlottrige Hauptmannsuniform gekleidet, mit Hilfe einiger abkommandierter Soldaten die Stadtkasse von Köpenick geraubt, war aber bald aufgespürt und verhaftet worden. Kaiser Wilhelm II. begnadigte 1908 den Hochstapler, der schon lange zur Köpenicker Folklore gehört und dort aus keinem Umzug wegzudenken ist. Ein anderer Prozess aus der Frühzeit des Gerichtsgebäudes drehte sich um Anschuldigungen gegen einen Vertrauten des Kaisers, den Fürsten Philipp von Eulenburg, er sei homosexuell. So ausgerichtet zu sein, stand damals aufgrund des Paragraphen 175 unter Strafe. Der Sensationsprozess gegen den wohl zu Unrecht beschuldigten, von seinem kaiserlichen Freund und Gönner aber wie eine heiße Kartoffel fallen gelassenen Adligen wurde wegen dessen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt. Vor den Schranken des Kriminalgerichts stand als Zeuge der Schriftsteller Karl May, der von einem Journalisten unter Hinweis auf dessen Bekanntschaft mit deutschen Gefängnissen als "geborener Verbrecher" bezeichnet worden war. Der Journalist wurde Ende Dezember 1911 0wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 100 Mark verurteilt. Der gesundheitlich angeschlagene May starb wenig später am 30. März 1912 in Radebeul.

1940, im zweiten Jahr des Zweiten Weltkriegs, saßen die als "Könige der Einbrecher" berühmt gewordenen Brüder Franz und Erich Sass auf der Anklagebank. Aus ärmlichen Verhältnissen stammend, verlegten sie sich Mitte der 1920-er Jahre auf die "Geldbeschaffung" mit Hilfe modernster technischer Methoden. 1929 gelang es ihnen, in die Stahlkammer der Diskontobank am Wittenbergplatz einzudringen. Nachdem sie unbemerkt einen Tunnel von einem Nachbarhaus zum Keller der Bank gegraben hatten, gelangten sie durch einen Luftschacht in den Tresorraum, wo sie fast alle Schließfächer aufbrachen und ausräumten. Die Beute des Einbruchs wurde auf über zwei Millionen Reichsmark geschätzt. 1932 verließ die Brüder Deutschland und gingen nach Dänemark, wo sie weiter Raubzüge unternahmen. Sie wurden geschnappt und 1934 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Nach ihrer Haftentlassung 1938 an das Deutsche Reich ausgeliefert, in dem mittlerweile die Nationalsozialisten an der Macht waren, wurde ihnen im Kriminalgericht Moabit der Prozess gemacht. Zu 13 beziehungsweise 11 Jahren Zuchthaus verurteilt, wurden Franz und Erich Sass ins Konzentrationslager Sachsenhausen "überstellt", wo sie am 27. März 1940 ermordet wurden. Eine Zeitungsnotiz behauptete, sie seien "bei Widerstand" erschossen worden, tatsächlich wurden sie auf "Befehl des Führers" erschossen, wie man auf einem Dokument in der Polizeihistorischen Sammlung am Platz der Luftbrücke 6 in Berlin-Tempelhof lesen kann.

So genannte Sensationsprozesse fanden im Kriminalgericht unter großer öffentlicher Anteilnahme in der Turmstraße gegen Mörder, Betrüger, Bankräuber und weitere Vertreter der mehr oder weniger "ehrenwerten" Berliner Gesellschaft statt. Verhandelt wurden aber auch politische Strafsachen, und bei diesen Verfahren war Justitia, die über dem Eingang mit einer Binde über den Augen dargestellt ist, häufig alles andere als unparteiisch. Aus der Kaiserzeit stammende Richter urteilten in der Weimarer Zeit erbarmungslos, wenn es gegen die Linke ging, und ließen Milde walten, sobald sie über Leute aus dem rechten Lager zu urteilen hatten. Viele im Kriminalgericht Moabit tätige Juristen machten bei den Nationalsozialisten Karriere und erwiesen sich als willige Helfer der zwischen 1933 und 1945 praktizierten Blut- und Terrorjustiz. Wenn man in die Gerichtsakten schaut, sieht man, wie damals politische Gegner und solche Menschen, die nicht in das rassistische und völkische Bild der Nazis passten, systematisch vernichtet wurden. Kaum einem dieser auch im Kriminalgericht Moabit agierenden Juristen wurde nach dem Ende der Naziherrschaft ein Haar gekrümmt, viele passten sich geschmeidig den neuen Verhältnissen an. Proteste von Opfern des auch in Moabit praktizierten Justizterrors und deren Hinterbliebenen verhallten ungehört.

Erich Honecker, die verfolgte Unschuld

In neuerer Zeit saßen neben zahlreichen Mördern, Betrügern, Einbrechern sowie anderen Kriminellen auch Terroristen und sowie nach dem Ende der DDR hohe Politiker und SED-Funktionäre des zweiten deutschen Staats in Moabit auf der Anklagebank, darunter Erich Honecker, Erich Mielke und Egon Krenz. Zu ihnen gesellten sich so genannte Mauerschützen. Die Richter urteilten über sie fast immer milde oder stellten, wie bei Honecker und Mielke, das Verfahren wegen Verhandlungsunfähigkeit ein. Honecker, der am 18. Oktober 1989 von den eigenen Leuten zum Rücktritt gezwungen worden war und ohnmächtig zusehen musste, wie er zum allgemeinen Sündenbock erklärt und seine, wie er meinte, politische Lebensleistung kaputt gemacht wurde, hat sich von seinem tiefen Fall nicht mehr erholt. Während sein Regime alle Gegner erbarmungslos verfolgt hatte, wurden ihm und seiner Frau, der Volksbildungsministerin Margot Honecker, die Vorzüge des demokratischen Rechtsstaats zuteil, ja er genoss für ein paar Wochen sogar christliche Nächstenliebe, als er und seine Frau nördlich von Berlin in einem Pfarrhaus Asyl erhielten.

Zum Prozess gegen Erich Honecker ist es nicht gekommen. Das Berliner Verfassungsgericht entsprach einer Verfassungsbeschwerde des Angeklagten, wonach dieser den Abschluss des Verfahrens aus gesundheitlichen Gründen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erleben wird. Es sei davon auszugehen, dass das Strafverfahren seinen gesetzlichen Zweck auf vollständige Aufklärung der dem ehemaligen Staats- und Parteischef der DDR zur Last gelegten Taten und gegebenenfalls die Verurteilung und Bestrafung nicht mehr erreichen könne. Damit werde das Strafverfahren zum Selbstzweck, stellten die Verfassungsrichter fest und betonten, die Aufrechterhaltung des Haftbefehls verletze den Anspruch Honeckers auf Achtung seiner Menschenwürde. Der Mensch werde zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen insbesondere dann, wenn sein Tod derart nahe sei, dass ein Strafverfahren seinen Sinn verloren habe. Honecker wurde auf freien Fuß gesetzt und starb 1994 im chilenischen Exil. Seine Frau Margot, die langjährige Volksbildungsministerin, pflegte bis zu ihrem Tod am 6. Mai 2016 das Erbe ihres Mannes und war die ganze Zeit fest davon überzeugt, dass er ohne Fehl und Tadel ist und andere Schuld am Untergang des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden sind.

18. Mai 2017

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