Weg mit den todbringenden Waffen!
Mutiger Jugendprotest an der Carl-von-Ossietzky-Schule in Berlin-Pankow brachte 1988 die Stasi auf den Plan



Der aus der Kaiserzeit stammende Schulpalast an der Görschstraße in Berlin-Pankow war im Herbst 1988 Schauplatz eines Schülerprotest gegen die Militarisierung in der DDR und für die Ziele der polnischen Solidarnosc-Bewegung.



Das martialische Gehabe bei Kundgebungen und Staatsfeiertagen war ganz nach dem Geschmack von Honecker und seinen Genossen. Andere wandten sich nur angewidert ab, und ganz Mutige sprachen ihren Protest ganz im Sinne von Carl von Ossietzky offen aus.



Die Ausstellung in den früheren Amtsräumen von Stasi-Minister Erich Mielke an der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg erinnert auch an den Protest der Jugendlichen von der Pankower EOS "Carl von Ossietzky".





Carl von Ossietzky, eine der bedeutendsten Stimmen des "anderen Deutschland", starb am 4. Mai 1938 an den Folgen der KZ-Haft. Ihn zu ehren, war erst nach dem Ende der Hitlerdiktatur möglich. Oben das Denkmal an der Ossietzkystraße in Pankow, darunter ein weiteres in der deutsch-türkischen Carl-von-Ossietzky-Gemeinschaftsschule an der Blücherstraße in Berlin-Kreuzberg.

Im September 1988 hefteten acht Schüler der damaligen Erweiterten Oberschule (EOS) "Carl von Ossietzky" Proteste und Unterschriftenlisten zur Unterstützung der von der regimekritischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc organisierten Streiks in Polen und gegen die NVA-Parade anlässlich des 39. DDR-Jubiläums am 7. Oktober an ihre Wandzeitung. Ihr Mut blieb nicht ohne Folgen, denn die beteiligten Schüler wurden daraufhin vor ein Tribunal geladen, und vier von ihnen wurden nach heftigen Auseinandersetzungen von dem aus der Kaiserzeit stammenden Schulpalast verwiesen. Zwei wurden an eine andere Schule versetzt, die restlichen zwei erhielten Verweise. Trotz des Protestes oppositioneller Gruppen in der DDR und von Sympathisanten in Westberlin und in der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurden die von ganz oben, das heißt im SED-Zentralkomitee sowie in dem von Margot Honecker geleiteten Volksbildungsministerium, angeordneten Strafen bestehen, solange es die SED-Herrschaft noch bestand. Erst nach ihrem Ende gut ein Jahr später konnten die vier von der Schule verwiesenen Jugendlichen ihr Abitur nachholen.

Der Jugendprotest zeigt, dass junge Leute mutig von der eigenen Verfassung verbrieften Recht auf Meinungsäußerung Gebrauch machten, wohl wissend, dass sie sich und ihren Familien sehr viel Ärger einhandeln werden. Der Zufall wollte es, dass etwa zur gleichen Zeit an den 50. Todestag des streitbaren Publizisten und Namensgebers der Oberschule Carl von Ossietzky erinnert wurde. Ihm zu Ehren wurde an der zum Schloss Schönhausen zulaufenden Pankower Ossietzkystraße ein von Klaus Simon geschaffenes Denkmal errichtet. Es wäre gut denkbar, dass sich die Jugendlichen für ihre Protest gegen waffenstarrende Umzüge und ihr Eintreten für die systemkritische Gewerkschaftsbewegung in Polen durch die Schriften des von den Nazis ins Konzentrationslager geworfenen Pazifisten und Friedensnobelpreisträgers von 1935 ermutigt fühlten.

Kritik an faschistoiden Tendenzen in der DDR

Auf Wunsch der FDJ-Grundorganisation hatte Schuldirektor Rainer Forner zu Beginn des Schuljahres 1988/89 eine "Speaker's Corner" genehmigt, eine Stelle, an der man ungehindert seine Wünsche und Meinungen kundtun kann. Er tat dies wohl in Erwartung regimetreuer Bekenntnisse. Da er den Schülern offen und unzensiert Stellungnahme zu Fragen der Zeit und den sie bewegenden Probleme in Aussicht gestellt hatte, nutzten angehenden Abiturienten die Gelegenheit, sich ihren Unmut von der Leber zu schreiben, und erregten sogleich den Zorn der Partei. Schon seit längerem waren Schule und Schüler im Blick der Staatssicherheit. Bei einer mit viel militärischem Gepränge verbundenen Gedenkkundgebung zu Ehren der Opfer des Faschismus am 11. September 1988 waren unter anderem Benjamin Lindner, Shenja-Paul Wiens und Philipp Lengsfeld, ein Sohn der kurz zuvor ausgebürgerten Oppositionellen Vera Wollenberger, mit selbstangefertigten Transparenten gegen faschistoide Tendenzen und Umtriebe von Neonazis in der DDR aufgefallen, gegen Erscheinungen also, die es im sich so sehr als Bollwerk des Antifaschismus ausgebenden zweiten deutschen Staat eigentlich nicht geben durfte. Kai Feller, Schüler der 11. Klasse, schrieb: "In wenigen Wochen ist es soweit. Auf den Straßen Berlins werden riesige Geschosse auffahren, todbringende Waffen zur Schau gestellt. Die Panzer fahren in einer Zeit durch die Straßen, da gerade vertrauensbildende Maßnahmen eine gemeinsame Sicherheit schaffen sollen. In einer solchen Zeit ist das öffentliche Vorführen militärischer Stärke, das laute Bekunden der Abschreckung, schädlich für die politische Schönwetter-Phase, die vielleicht historisch sein könnte. Es passt nicht in die Friedenspolitik der DDR. Dem internationalen Ansehen der DDR sowie dem gesamten Friedensprozess würde ein Verzicht auf die Militärparade am 7. 10. guttun."

Zur "Identitätsfeststellung" wurden die Schüler für kurze Zeit festgenommen. Am Tag darauf machten Benjamin Lindner und Shenja-Paul Wiens, Enkel des bekannten DDR-Schriftstellers Paul Wiens, mit dem an die Wandzeitung gehefteten Artikel "So sehen wir das. Anmerkungen zur derzeitigen Situation in der VR Polen" ihrem Ärger Luft. Der Beitrag endete mit der Aufforderung zu Reformen und der Beteiligung der Solidarnosc und anderen oppositionellen Gruppen an der Macht im Nachbarland. Noch am selben Tag entfernte Carsten Krenz, ein Sohn des damaligen Stellvertreters des Staatsratsvorsitzenden und nach Honeckers Sturz SED-Generalsekretärs Egon Krenz, den Beitrag, brachte ihn aber am folgenden Tag mit einem kritischen Kommentar wieder an. Die Staats- und Parteiführung war bestens informiert über die Vorgänge in der Erweiterten Oberschule und forderte von ihr, "dem Treiben" der Nörgler und Abweichler Einhalt zu gebieten und die an dem unerhörten Affront beteiligten Schüler zur Verantwortung zu ziehen.

Stasi tritt in Aktion

Diese aber ließen sich nicht einschüchtern und nahmen die ihnen eingeräumte Meinungsfreiheit wörtlich. Am 14. September befestigte Kai Feller einen weiteren Artikel an der Wandzeitung, in dem er die die Notwendigkeit von Militärparaden anlässlich des DDR-Jubiläums in Zweifel zog und forderte, auf solche militaristischen Demonstrationen zu verzichten. Auf einer daneben angebrachten Unterschriftenliste bekanten sich 38 der rund 160 Schüler zu diesem Appell. Die Protestaktion wurde durch den Stadtbezirksschulrat unterbunden. Jetzt begann eine Treibjagd gegen die Ossietzky-Schule und die unbotmäßigen Schüler. Lengsfeld und Lindner beantworteten die Attacken mit der Wiedergabe eines "Du Meine" genannten Lobgedichts eines Soldaten in der Zeitung "Die Volksarmee" auf die von diesem über alles geliebte Maschinenpistole Marke Kalaschnikow, verbunden mit einem sarkastischen Kommentar. Der Direktor ließ das Blatt sofort entfernen und informierte seine Vorgesetzten.

Gleichzeitig traten die Stasi-Kreisdienststelle Pankow und die inoffizielle Mitarbeiterin (IM) "Ilona" in Aktion, um Schüler und einzelne Lehrer auszuhorchen und Hintergründe der "feindlich-negativen Aktivitäten" zu erfahren. Damit aber nicht genug, am 22. September und danach war die Schule und die Schüler heftigen Diffamierungen, Verhören und regelrechten Tribunalen ausgesetzt. Auf Druck der Schule zogen 30 der 38 Schüler ihre Unterschriften zurück. Hingegen blieben Kai Feller, Katja Ihle, Philipp Lengsfeld, Benjamin Lindner, Georgia von Chamier, Shenja-Paul Wiens und zwei weitere Schüler bei ihrem Standpunkt. Auf Druck der FDJ-Grundorganisationsleitung stimmten die Klassen über den Ausschluss aus ihren FDJ-Gruppen wegen "antisozialistischen Verhaltens", "verräterischer Gruppenbildung" und "Gründung einer pazifistischen Plattform" ab. Am 30. September wurden wie in einem Schauprozess die betreffenden Schüler in der vollbesetzten Aula der Schule verwiesen, ohne dass ihnen Möglichkeit gegeben wurde, sich zu rechtfertigen. Teile der Schülerschaft solidarisierten sich mit den gemaßregelten Schülern, was aber an der Sachlage nichts änderte.

Die Vorgänge in der Erweiterten Oberschule Carl von Ossietzky ließen sich nicht geheim halten. Viele DDR-Bewohner, die von den Proteste und ihren Folgen durch westliche Medien erfuhren, fühlten sich an politische Repressionsmaßnahmen in den fünfziger und sechziger Jahren erinnert, als Parteichef Walter Ulbricht kompromisslos gegen innerparteiliche Widersacher und solche vorging, die einen "besseren Sozialismus" forderten. An das Schulgebäude wurde Anfang November die Parole "Weiterfragen!" angebracht, und auch die oppositionellen "Umweltblätter" der Berliner Umwelt-Bibliothek berichteten über "Das Risiko eine eigene Meinung zu haben". Zudem wurden 3000 Flugblätter hergestellt, um über die Vorkommnisse aufzuklären. In der ständigen Ausstellung zur Geschichte des Ministeriums für Staatssicherheit an der Ruschestraße in Berlin-Lichtenberg wird dokumentiert, was die Pankower Schüler gewagt haben und wie das Mielke-Ministerium zurück schlug. Unter dem Titel "Was geschieht an unseren Schulen?" wurde zu einer Strategiekonferenz in die Berliner Zionskirche eingeladen. Auch andere Kirchen beteiligten sich mit Informations- und Solidaritätsgottesdiensten an den Protesten. Allerdings versuchten der damalige Generalsuperintendent Günter Krusche in Abstimmung mit dem Konsistorialpräsidenten und nach 1990 brandenburgischen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe "derartige Veranstaltungen" in den Kirchen und Gemeindehäusern zu unterbinden. Unterstützung hingegen erfuhren die aufsässigen Schüler aus der Bundesrepublik Deutschland. Westberliner Schulen und Lehre appellierten an die Regierung der DDR gegen die Repressalien, und auch andere Organisationen erhoben ihre Stimme gegen die Unterdrückung des freien Wortes in der DDR.

Margot Honecker, die verfolgte Unschuld

Die Sympathiekundgebungen für die jungen Leute, die aus der vor allem von Kindern der Ostberliner Elite besuchten Schule geworfen und auf andere Weise gemaßregelt wurden, wobei man immer auch die Folgen für Eltern, Freunde und Verwandte in die Betrachtung einbeziehen muss, blieben zunächst wirkungslos. Die Urteile bestanden weiter. Erst nach der friedlichen Revolution im November 1989 sah sich das Volksbildungsministerium genötigt, die Schulstrafen aufzuheben, so dass die vier der Schule verwiesenen Schüler ihr Abitur nachholen konnten.

Volksbildungsministerin Margot Honecker war natürlich von A bis Z über die Vorgänge in der Ossietzky-Oberschule informiert, ganze Arbeitsgruppen ihrer Dienststelle und das Ministerium für Staatssicherheit bemühten sich, dass aus dem Aufbegehren nicht ein Flächenbrand wird. Nach der Ossietzky-Oberschule in dem umfangreichen Interviewbuch "Der Sturz" (Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1990, ISBN 3-351-020600) von Reinhold Andert und Wolfgang Herzberg befragt, sagte die sich als verfolgte Unschuld ausgebende Chefin des DDR-Bildungswesens ausweichend und nebulös: "Ich habe mich voll zu der Verantwortung bekannt, was damals war. Aber das würde ich hier nicht noch einmal aufwärmen wollen. Da waren so viele Verstrickungen und Verzwickungen. Das waren ja nicht nur ein paar Partyschülerchen, nicht nur ein paar andersdenkende Schüler, sondern die sind von anderen missbraucht worden." In die Schule sei keine Ruhe mehr gekommen, das sei nicht mehr normal gewesen. "Es wurde ja keiner in dem Sinne bestraft. Es war eine normale Schulorganisation." Damit beließ es die Frau des im Oktober 1989, ein Jahr nach der Affäre, seiner Posten enthobenen und im Orkus der Geschichte gelandeten Erich Honecker, bewenden. Schade nur, dass die Interviewer nicht näher nachgefragt haben.

Selbstverständlich ließen sich DDR-Oppositionelle nicht den Mund verbieten. Unter Berufung auf Rosa Luxemburg, die Anfang 1919 mit Karl Liebknecht von rechtsradikalen Offizieren ermordet worden war, erregten sie den Zorn der SED-Führer. Bei einer Kundgebung auf dem Zentralfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde hatten sie im Januar 1988 bei einer Gedenkkundgebung in Berlin-Friedrichsfelde ein Plakat mit der Aufschrift "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" entrollt und waren sofort von Stasileuten umzingelt. Wörtlich hatte Luxemburg einem unvollendet gebliebenen Manuskript über Lenin und die russische Revolution geschrieben: "Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei - mögen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden". Dass es nicht zum Guten führt, wenn eine Partei, eine Gruppierung von sich behauptet, allwissend zu sein und alles für alle entscheiden will, beobachtete die linke Politikerin am Beispiel Sowjetrusslands, wo die von Lenin geführte Bolschewiki eine Alleinherrschaft etabliert hatte und alle ausschaltete, die ihr diesen Anspruch streitig machten. Bürgergruppen, die sich ein Jahr später erneut mit jenem Zitat von Rosa Luxemburg und weiteren Aktionen zu Wort meldeten, wurden von der Stasi verhaftet, bedroht und mundtot gemacht.

5. Dezember 2017

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