"Wenn Dir die Kniee zittern / Dann trink en Bittern"
Das Zillemuseum im Berliner Nikolaiviertel ist nach Renovierungsarbeiten wieder geöffnet



Heinrich Zille zeichnet in seinem Atelier - in dem ihm gewidmeten
Museum kann man erleben, was von dort in die Welt gegangen ist.




Berliner "Jören" fragen den Zeitungsmann nach
brandneuen Mordgeschichten und anderen Sensationen.




Auf dem Postamt geht es turbulent und laut zu,
man sieht hier sogar berufstätige Frauen.




"Meine Wurst is jut - / wo keen Fleesch is - da is Blut -
/ Wo keen Blut is - da sind Schrippen - / An meine Wurst
is nicht zu tippen!", lässt Zille im dritten Kriegsjahr 1916
einen Gastwirt sagen.




Das von Thorsten Stegmann geschaffene Zilledenkmal im
Nikolaiviertel wirbt für das nur wenige Meter weit entfernte
Museum über das Leben und Werk dieses Berliner
Originals mit dem unvermeidlichen Zigarrenstummel im Mund.
(Fotos: Caspar)


Als Heinrich Zille um 1900 seine Karriere als Zeichner des Berliner "Milljöhs" startete, waren die Meinungen über diesen neuen Stern am Himmel der Humoristen geteilt. Vertreter und Nutznießer des offiziellen Kunstgeschmacks Kaiser Wilhelms II. sprachen von Abschaum und Gosse und waren mit ihrem Herrn und Auftraggeber einer Meinung, dass Kunst erheben und nicht herabziehen soll, da es schon genug Elend gibt. Der als so genannter Rinnsteinkünstler gescholtene Heinrich Zille entdeckte noch im schlimmsten Dreck und Elend einen strahlende Gesichter, in der dunkelsten Hinterhofecke eine mickrige Blume. Allerdings gingen seine Bilder nicht so weit, die Herrschaftsverhältnisse und insbesondere das autoritäre und zackige Gehabe des Kaisers anzugreifen und nach dem Unsturz zu rufen. Das taten andere mit spitzer Feder und scharfer Zunge - und handelten sich Verfahren wegen Majestätsbeleidigung und Landesverrat ein.

Wenn Heinrich Zille eine Selbstmörderin zeichnete, die mit ihrem Kind ins Wasser springen will und von Passanten von diesem letzten Schritt abgehalten wird, lautet der Bildtext nur "Des Lebens satt", oder wenn er einen aus dem vierten Stock gesprungenen Mann in einer Blutlache zeigt, ist das für ihn kein Grund, die Revolution auszurufen. Auch der Invalide, der mit nur einem Bein und zwei Krücken aus dem Krieg kommt, ist für den Zeichner und, was häufig übersehen wird, unbestechlichen Fotografen kein Grund, das unsinnige Abschlachten anzuklagen. "Nun Bruder nimm den Bettelsack Soldat bis Du gewest", kommentiert Zille das Elend derer, die Leben und Gesundheit für Kaiser, Gott und Vaterland geopfert haben. "Zille hat das Amoralische im Blut", schrieb Kurt Tucholsky 1925. "Er urteilt nicht, er zeichnet. Zille gehört zu den Neuen, weil er unbarmherzig sein kann und Herz hat, weil er vor Mitleid mitleidlos schildert, weil er die Ruhe weg hat." Und als der Zeichner der kleinen Leute 1929 gestorben war, rief Tucholsky ihm hinterher: "Zille, du warts ein jrossa Meista; Du hast jesacht, wies is".

In der unlängst zu Heinrich Zilles 159. Geburtstag am 10. Januar 2017 nach Renovierungsarbeiten wiedereröffneten Zillemuseum an der Propststraße 11 im Berliner Nikolaistraße werden die Kaiserzeit und die so genannten goldenen zwanziger Jahre lebendig, die für die große Masse des Volkes alles andere als golden waren. Irdischen und alkoholischen Freuden nicht abgeneigt, war Zille, nach seinem Abschied von der Photographischen Gesellschaft, für die er bis 1908 tätig war, ein gern gesehener Gast in Berliner Kneipen und Destillen, wo er vor sich hin im Fuselrauch dösende Familienväter, dicke Mütter und ihre bläkenden Kinder mit rachitisch-krummen Beinen auf einzigartige Weise zeichnete. Über einer Theke hängt ein Schild mit dem schönen Spruch "Wenn Dir die Kniee zittern Dann trink en Bittern", in einer anderen Kneipe wird kann man lesen: "Der erste Kuß, welch ein Genuß! / Der erste Schluck - Nie lang genug!". Und dann diese Szenen in Tanzpalästen und Schrebergärten, beim Picknick im Grünen oder an überfüllten Volksbädern! Oder die armseligen Kinder, die auf dem eisigkalten Weihmachtsmarkt Selbstgebasteltes verkaufen wollen oder sich an wunderbar erleuchteten Schaufenstern die Nasen platt drücken und genau wissen, dass sie von all den Herrlichkeiten nichts bekommen werden.

Das ganze Gegenteil dieser mal melancholischen, mal beschwingten Alltagszenen sind die Zeichnungen, Aquarelle und Radierungen, die dem dunklen, geheimnisvollen Berlin gewidmet sind. Zille bekam Ärger mit der Polizei und der Zensur, als er sehr drastisch und detailfreudig schilderte, wie "Schlafmeechens" Sex mit "scharfen Jungs" in der Hinterstube haben, und das nicht nur im einfachen Paarbetrieb, sondern gemeinsam mit mehreren Leuten. Wie das geht, wird anhand der immer wieder nachgedruckten Bilderfolge "Hurengespräche" gezeigt, von der in einem kleinen Raum einige Proben ausgestellt sind.

Als Heinrich Zille am 9. August 1929 einundsiebzigjährig starb, folgten unzählige Menschen dem Trauerzug bis hinaus auf den Stahnsdorfer Waldfriedhof. "Pinselheinrich" war schon längst eine Legende, ihm wurden ehrende Nachrufe gewidmet. Als die Nazis an die Macht kamen, mochte man vom 80. Berliner Ehrenbürger nicht mehr viel wissen. Seine Bilder, sein sozialpolitisches Engagement für den sprichwörtlichen "kleinen Mann auf der Straße" passten nicht ins völkische Weltbild der Nationalsozialisten. Nach deren Abgang nahm man Zille in beiden deutschen Staaten, in beiden Hälften Berlins mehr als Meister der Folklore denn als scharf beobachtenden Zeitkritiker und Mahner wahr.

Bis heute ist Heinrich Zille populär, auch wenn sich die Lebens-, Arbeits- und Wohnverhältnisse, die er so unnachahmlich mit seinen Grafiken dokumentiert hat, zum Glück grundsätzlich geändert haben. Seine akademisch, heldisch, historisierend und politisch korrekt malenden Widersacher sind zumeist vergessen, und ihre Werke verstauben in den Museumsdepots. Käthe Kollwitz fasste ihr Urteil in folgenden Worten zusammen: "Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter - und es sind Meisterwerke". Aus dem Plan, in Berlin ein dem Zeichner der kleinen Leute, der Huren und Luden, der Schlummermütter, Kneipiers, Pferdeschlächter, Hinterhofjongleure, Rummelboxer, der Kindermädchen und kalten Mamsells gewidmetes eigenes Museum einzurichten, wurde zu Zilles Lebzeiten und danach nichts. Erst 2002 konnte im Berliner Nikolaiviertel ein eigenes Zillemuseum eröffnet werden, das jetzt wieder in neuer Gestalt auf viele neugierige Besucher wartet. Es ist täglich von 11 bis 18 Uhr geöffnet, Eintritt 7 und ermäßigt 5 Euro.

13. Januar 2017

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