Braune Verbrecher in weißen Kitteln
Charité dokumentiert, wie sich Ärzte zu Hitlers willigen Helfern machten und was aus ihnen nach dem Ende der Nazidiktatur wurde



Die NS-Propaganda machte Stimmung gegen Kranke, Schwache und Wehrlose und hatte damit Erfolg (Exponat in der Topographie des Terrors).



Litfaßsäulen auf dem Charité-Campus und die neue Dauerausstellung am Bonhoefferweg schildern, was mit Ärzten und Patienten geschehen ist, die nicht in das völkische und rassistische Schema der Nationalsozialisten passten und wie Menschen und Leichen zu pseudowissenschaftlichen Zwecken missbraucht wurden.





Die neue Dauerausstellung in der Psychiatrischen Klinik am Bonhoefferweg der Charité klärt über die Hintergründe auf. Die Dokumentation wird von der Lotto-Stiftung Berlin, der Friede Springer Stiftung und dem Freundeskreis der Charité unterstützt. Sie ist täglich von 9 bis 18 Uhr in der Psychiatrischen und Nervenklinik am Bonhoefferweg 3 auf dem Charité-Gelände bei freiem Eintritt zu sehen.



Eine Büste vor dem Klinikgebäude ehrt den Begründer der modernen Psychiatrie Wilhelm Griesinger, nicht mehr vorhanden ist das Pendant, auf dem die Büste des Psychiaters und Neurologen Carl Westphal stand. Da er Jude war, fiel er dem Rassenhass der Nazis zum Opfer. Heute kann der Sockel im Eingangsbereich der Klinik betrachtet werden.



Beim Nürnberger Ärzteprozess wurden Todes- und hohe Zuchthausstrafen ausgesprochen, doch manche von Hitlers willigen Helfern kamen ungeschoren davon.



Eine Ausstellung im Haus 10 der Klinik in Wittenau schildert Schicksale von Patienten beiderlei Geschlechts und jeden Alters, die in Konzentrationslagern und geheimen Tötungsanstalten Opfer grausamer Experimente wurden, die man verhungern ließ oder zu Tode spritzte. Eine Gedenktafel an der Klinikmauer klärt auf. (Fotos/Repros: Caspar)



Der hippokratische Eid, den Ärzte vor ihrer Approbation ablegen müssen und mit dem sie versichern, stets zum Wohle der Patienten zu arbeiten, war in der Nazizeit außer Kraft gesetzt. Braune Verbrecher in weißen Kitteln und hochtrabenden akademischen Titeln unternahmen unmenschliche Versuche an Häftlingen in Konzentrationslagern, bei denen zahllose Gefangene qualvoll starben. Ihnen stand ein großes Reservoir von Opfern der nationalsozialistischen Blutjustiz zu Gebote, und sie erwarben "wissenschaftlichem Lorbeer" durch die Untersuchung solcher frisch vom Schafott oder dem Galgen angelieferten Leichen. Nach dem Ende des NS-Staates haben solche Ärzte ihre Experimente als Dienst an der Menschheit erklärt und verharmlost.

Rund 300 000 als "lebensunwert" eingestufte Männer, Frauen und Kinder fielen den verharmlosend als Euthanasie (etwa: guter oder schöner Tod) bezeichneten Mord zum Opfer, der von einer Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4 organisiert und daher auch Aktion T genannt wurde. Eine Gedenkstätte in der Nähe berichtet in Bild und Schrift, wer die Opfer und wer die Täter waren. Dort und in der Charité-Ausstellung wird gezeigt, erklärt, dass die Nazi-Propaganda in zynischer Weise die "Volksgenossen" gegen Kranke und Behinderte aufhetzte, die der "Volksgemeinschaft" zu Last fallen, ja dass der Unterhalt von Kliniken und Pflegeeinrichtigen besser in Häuser und Wohnungen für Arbeiter gesteckt werden soll. Das Thema wurde in Spiel- und Propagandafilmen sowie in den Medien ausgiebig mit dem Ziel behandelt, um den Boden für eine breite Ausmerzung von "lebensunwertem Leben" zu bereiten. Nicht alle Bewohner des Deutschen Reiches machten das mit, vor allem die Kirchen, sofern sie nicht staatstreu waren, opponierten gegen die Krankenmorde, die oft in entlegenen Orten oder unter Tarnbezeichnungen stattfanden.

Lebenswertes und lebensunwertes Leben

Die Berliner Charité fragt im Rahmen ihres Projekts GeDenkOrt in der neuen Ausstellung "Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte" nach Haltungen und Bedingungen, die zwischen 1933 und 1945 angesehene Mediziner zu skrupellosen Mördern und Menschenverächtern machten. Das als Motto verwendete Zitat stammt von dem Psychiater Leo Alexander, der als Jude in die USA emigrieren musste und bei den Prozessen gegen Naziärzte als Gutachter fungierte, und geht so weiter: "Es begann mit der Akzeptanz der Einstellung, dass es Leben gebe, die es nicht wert seien, gelebt zu werden." Viele leitende Mediziner der Charité und der Berliner Universität hätten damals ihre Kliniken und Institute zu Orten der NS-Rassen-, Leistungs- und Vernichtungsmedizin gemacht, daher sei es überaus wichtig, uns mit diesem Kapitel der Charité-Geschichte transparent und öffentlich auseinanderzusetzen, sagte Prof. Dr. Karl Max Einhäupl, Vorstandsvorsitzender der Charité, bei der Eröffnung der Ausstellung. "Wir lernen aus der Geschichte nur, wenn wir den Bezug zur Gegenwart herstellen und Gefährdungen thematisieren, die auch der modernen Medizin immanent sind. Die Charité bekennt sich dazu, eine Wissenschaft in Verantwortung aktiv zu leben."

Am Beispiel der Medizinischen Fakultät der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, der heutigen Humboldt-Universität, zeigt die Bild-Text-Dokumentation, wie sich Angehörige der Charité für die biopolitischen und rassistischen Ziele des NS-Regimes einspannen ließen, wie sie zu Hitlers willigen Helfern wurden und nichts dabei fanden, zahllose Menschen in den Tod zu schicken und/oder an Leichen pseudowissenschaftliche Untersuchungen und Experimente vorzunehmen. Einer von ihnen war Professor Dr. Hermann Stieve. Der Leiter des Anatomischen Instituts machte sich über hingerichtete Frauen her, um herauszufinden, wie sich "psychischer Stress" auf ihre Eierstöcke auswirken. Von seiner Mission beseelt, schrieb er 1938 dem Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft: "Durch die Hinrichtungen erhält das Anatomische und Anatomisch-biologische Institut einen Werkstoff, wie ihn kein anderes Institut der Welt besitzt. Ich bin verpflichtet, diesen Werkstoff entsprechend zu bearbeiten, zu fixieren und aufzubewahren."

Der Leichenverwerter der Nazi-Justiz

Dem zentrale Leichenverwerter der Nazi-Justiz, wie ihn Ernst Klee im "Personenlexikon zum Dritten Reich" (Edition Kramer, Koblenz 2011) treffend charakterisiert, hat seine blutige Vergangenheit beim Neustart nach 1945 nicht geschadet, er konnte als Ordinarius an der Humboldt-Universität weiterhin Sektionen vornehmen und Bücher veröffentlichen, als sei nichts geschehen. Ob er den Nationalpreis der DDR bekam, wie in den Medien behauptet wird, müsste noch geprüft werden. In der Liste der Preisträger taucht er nicht auf, wohl aber trugen zahlreiche Lehrbücher zu seinem Ruhm auch nach seinem Tod bei. In dem Buch von Gerhard Jaeckel "Die Charité. Die Geschichte eines Weltzentrums der Medizin von 1710 bis zur Gegenwert" (Ullstein Verlag Berlin 1999) ist auf Seite 776 zu lesen, dass die Humboldt-Universität dazu einen Antrag gestellt hat. Dem Schauraum des Anatomischen Instituts wurde erst nach der "Wende" 1989/90 der Name Hermann-Stieve-Saal klammheimlich von der Institutsleitung entzogen.

Angeblich nur Schwerverbrecher seziert

Um seine Leichen besser ausschlachten zu können und noch zu einer annehmbaren Zeit wieder nach Hause zu kommen, schlug Stieve vor, dass die Exekutionen in Plötzensee um 20 Uhr durchgeführt werden. "Ein späterer Zeitpunkt sei für das Anatomische Institut aber nicht tragbar, weil sonst die Bearbeitung der Leichen zu Forschungszwecken sich zu spät in die Nacht hinein ausdehnen würde, so dass die beteiligten Ärzte nicht mehr mit den Verkehrsmitteln nach Hause kommen könnten", ließ Stieve während des Kriegs die zuständigen Vollzugsorgane wissen. Die DDR-Behörden fanden nichts Anstößiges an Stieves Arbeit, das SED-Zentralorgan schrieb in seinem Nachruf: "Groß waren seine Taten. In seinem Werk wird er weiterleben". Andere Elogen hoben hervor, er habe an einzigartigem Untersuchungsgut gearbeitet, "wie es in dieser Zahl, Güte und Vollständigkeit noch keinem Forscher zur Verfügung stand." Nach Kriegsende erklärte Stieve, er habe nur "Schwerverbrecher" seziert, "Leichen des 20. Juli", also nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler in Plötzensee enthauptete oder erhängte Männer und Frauen, habe er abgelehnt oder sofort einäschern lassen. "Im Zweifelfall gab er sich unwissend" heißt es in der Ausstellung über Stieve. In dem schon erwähnten Buch über die Charité wird auf der Seite 775 aus Stieves Vorwort für ein 1952 im Verlag Thieme in Stuttgart erschienenes Buch so zitiert: "Seit dem Jahre 1933 und besonders während des Zweiten Weltkrieges hatte ich Gelegenheit, die Leichen vieler Männer und Frauen zu untersuchen, die wegen schwerer gemeiner Verbrechen hingerichtet worden waren." Befunde von Menschen, die aus politischen Gründen hingerichtet wurden, würden "in den folgenden Schilderungen" niemals beschrieben.

Wie andere an NS-Verbrechen beteiligte Kollegen wurde auch Stieve vom Schicksal milde bedacht. Er war und blieb geachtetes Mitglied wissenschaftlicher Gesellschaften. Ähnlich erging es dem an Euthanasiemorden beteiligten Kinderarzt Murad Jussuf Ibrahim, der 1947 den Ehrendoktortitel der Friedrich-Schiller-Universität Jena erhielt und wegen seiner Verdienste um die Ausbildung von Krankenschwestern, um Sozialpädiatrie und Senkung der Säuglingssterblichkeit hohes Ansehen genoss, Ehrenbürger der Stadt Jena wurde sowie mit dem Titel Verdienter Arzt des Volkes und 1952 den Nationalpreis der DDR erster Klasse ausgezeichnet wurde. Erst als um das Jahr 2000 Ibrahims Dienste für die NS-Gesundheitspolitik öffentlich wurden, hat man in Jena darauf verzichtet, die Universitätskinderklinik, zwei Kindergärten und eine Straße nach ihm zu benennen. In der Ausstellung findet sich überdies die Bemerkung, dass eine Klinik nach dem ebenfalls mit dem Nationalpreis der DDR ausgezeichneten Pathologen Robert Rössle in Berlin-Buch benannt wurde. "Das Wirken Rössles während der NS-Zeit würde nach aktuellem Forschungsstand eine solche Ehrung seines Namens nicht mehr zulassen."

Aufforderung zum Dialog über Verantwortung der Medizin

Beim Rundgang durch die Ausstellung werden Schicksale von Patienten beiderlei Geschlechts und jeden Alters geschildert, die in den Konzentrationslagern und in geheimen Tötungsanstalten Opfer grausamer Experimente wurden, die man verhungern ließ oder zu Tode spritzte. Es wird ferner an Studierende und Wissenschaftler erinnert, die aus rassistischen Gründen gleich nach der so genannten Machtergreifung entlassen und Opfer von Vertreibung und Verfolgung wurden. Die Schicksale werden anhand von persönlichen Dokumenten und Selbstzeugnissen thematisiert. Ein weiterer Teil der Ausstellung nähert sich anhand von ausgewählten Fachdisziplinen und ihrer Protagonisten der Perspektive der an den Morden und Experimenten beteiligten Täter, seien sie Ärzte oder Mitarbeiter gewesen. Der Blick zuru?ck soll auch dazu anregen, u?ber gegenwärtige beziehungsweise immanente Gefährdungen der modernen Medizin nachzudenken. "Wir zeigen eine ganze Bandbreite individuellen Handelns und den zugrundeliegenden Einstellungen, die teilweise auch über die NS-Zeit hinaus weiter wirksam waren", erklärt Dr. Judith Hahn, Kuratorin vom Institut für Geschichte der Medizin der Charité, und fügt hinzu: "Die dargestellten Grenzüberschreitungen sollen auch zum Dialog über die Verantwortung der Medizin und der Wissenschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anregen."

In die von Hitler persönlich veranlassten Krankenmorde waren auch die Wittenauer Heilstätten verstrickt, die seit 1957 den Namen des Neurologen Karl Bonhoeffer tragen, des Vaters des Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer. Von hier wurden 4000 Patienten in die abgelegene Provinzial-Irrenanstalt Obrawalde (heute Obrzyce) bei Meseritz in der Provinz Posen gebracht, um sie umzubringen. "Diese Menschen waren Schutzbefohlene. Sie wurden von jenen getötet, die sie schützen sollten. Die Verbrechen an diesen wehrlosen Kranken sind unsühnbar. Die Schuldigen sind bekannt. Die Opfer sind unvergessen", erklärt eine Tafel am Eingang zu dem weitläufigen Klinikgelände. Dort klärt im Haus 10 die Ausstellung "Totgeschwiegen 1933-1945" über die Geschichte der Wittenauer Heilstätten auf und schildert in Schrift, Bildern sowie mit Hinterlassenschaften aus den Jahren nach 1933, wie man mit den Kranken umgegangen ist und wer für ihrem Tod verantwortlich ist.

Unter den Mordopfern befanden sich kranke und behinderte Kinder in der Kinderfachabteilung Wiesengrund sowie jüdische und ausländische Patienten, derer sich das NS-Regime auf "stille Weise" entledigte. Ihre Frage "Wohin bringt ihr uns?" wurde ausweichend beantwortet, niemand ahnte, welche Verbrechen mit ihnen geplant waren. In der Nähe der Karl-Bonhoeffer-Klinik wird am Haus Eichborndamm 238 mit einer Tafel an die Kinder und Jugendlichen erinnert, die erst menschenunwürdigen Experimenten unterzogen und dann umgebracht wurden. Nur wenige an den Morden in der Heil- und Pflegeanstalt Obrawalde beteiligte Ärzte und Pfleger wurden nach dem Krieg vor Gericht gestellt. 1946 wurden zwei von ihnen vom Berliner Schwurgericht zum Tod verurteilt und 1947 hingerichtet, wie in der Topographie des Terrors an der Niederkirchnerstraße in Berlin-Kreuzberg zu erfahren ist. Anderen Mördern in weißen Kitteln ist kaum etwas geschehen.

29. November 2017

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